Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[An Ottla Kafka]

[Matliary, 6. Mai 1921]
 


Also wirklich, meine arme kleine Schwester ist von ihrer großen Věra so in Anspruch genommen, dass sie mich ohne weiteres auf Aprilscherz-Sanatoriumsschiffen auf die hohe See hinausfahren läßt. So spiele ich also doch mit Deinem Ohr und wollte es gar nicht, schrieb ja dass das Feuilleton aus der Nummer vom ersten April kommt, aber bei dieser Briefstelle weinte wahrscheinlich Věra und wetzte ihre kleine Zunge.

Die Sommerfrische. Gewiß, das wäre das schönste, ich antwortete damals nur deshalb nicht, weil es mir damals so wie heute nicht durchführbar vorkommt. Mir wird übel, wenn ich daran denke, wie widerlich (nicht der Leichtsinn darin beleidigt mich, aber die Widerlichkeit, die gespensterhafte Widerlichkeit) ich mich in dieser Hinsicht in Prag benommen habe. Nun würde ja wenn ich mich vor jeder Berührung mit Věra hüten würde, keine wirkliche Gefahr für sie bestehn, der Arzt wird es bestätigen, aber im Gehirn bleibt ein Risiko doch, und nicht nur in meinem, auch in dem der andern. Darum glaube ich können wir nicht zusammenfahren.


---------


Die Mutter, so lieb, schreibt mir heute wiederum wegen der Schiffe. Beim Hereinfall in Aprilscherze seid Ihr wirklich sehr hartnäckig, dabei hatte ich es nur auf Pepa abgesehn, aber Ihr wolltet ihn nicht allein lassen. Ich fürchte mich nur immerfort, dass Ihr Euch aus mir einen Spaß macht.


---------


Wegen Věra mach Dir nicht zu große Sorgen, bedenke doch wie schwer es für Erwachsene ist, sich an Neues zu gewöhnen, selbst wenn sie zur Verteidigung des Bestehenden nichts Wesentliches anführen könnten. Du erwähnst die Käsl auf dem Tisch und sprichst die mit Furcht gemischte Hoffnung aus, die auch ich immerfort habe. Nun hat Věra den himmlischen Tisch verlassen und sieht von Deinem Arm auf den irdischen Tisch hinunter und er gefällt ihr nicht oder vielmehr es ist von Gefallen gar nicht die Rede, sie muß sich nur an ihn gewöhnen, das muß eine schreckliche für uns unvorstellbare Arbeit sein. Nur um sich dafür zu stärken, muß sie so viel "essen", vielleicht auch um sich zeitweilig zu betäuben. "Die Welt ist ja nicht zum Aushalten" sagt sie sich manchmal "nur schnell sich volltrinken". Und dann trinkt sie und dann weinst Du.

- Ich mußte letzthin nur ins Nebenzimmer übersiedeln, in ein Zimmer überdies, auf dessen Balkon ich seit 4 Monaten liege und fast alle meine Möbel wurden mit hinübergenommen und doch hatte ich Mühe mich zu gewöhnen, bis sich schließlich nach paar Stunden ergab, dass dieses Zimmer mit der großen Balkontüre und mit viel Luft und Licht noch viel besser war als das vorige. So wird es Věra auch gehn. - Du mußt auch bedenken, dass für Věra das Essen der nächstliegende und am leichtesten zu erobernde Teil der großen Welt ist und so nützt sie aus und Du mußt es leiden.


---------


Das ärztliche Zeugnis liegt bei. Mach also den schweren Weg und bald bitte. Ich bin dafür, gleich jetzt nur das halbe Gehalt zu verlangen, ich werde auch damit auskommen und es wird mir leichter sein es anzunehmen.


---------


Grüß Elli und Valli trotz meiner gereizten Bemerkungen letzthin. Es ist eben an manchen Tagen so. Auch das Fräulein

Dein


Viel Glück zu Pepas Reise.




Das gegen Ende des Briefes erwähnte ärztliche Zeugnis Dr. Leopold Strelingers ist auf den 5. Mai datiert. Kafka hat ihm ein kurzes auf den 6. Mai datiertes Begleitschreiben beigegeben; es lautet in deutscher Übersetzung: "Löblicher Verwaltungsausschuß! Im Hinblick auf das vorgelegte ärztliche Zeugnis vom 5. Mai dieses Jahres bitte ich ergebenst den mir bis 20. Mai bewilligten Urlaub noch zu verlängern." (D 75) Das Gesuch wurde am 13. Mai bewilligt, die Beurlaubung Kafkas bis 20. August 1921 verlängert. (Vgl. D 76 und Nr. 98)


ins Nebenzimmer übersiedeln: Vgl. Nr. 88.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at