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[An Julie und Hermann Kafka]
Liebste Eltern, durch besondere Folgerichtigkeit zeichnen sich meine Briefe
nicht aus, zuerst will ich fort, dann will ich bleiben, dann will ich wieder
fort und schließlich bleibe ich. Aber es erklärt sich ein wenig
dadurch, dass es mir im Ganzen hier sehr gut gefällt, gar in
diesen wunderbaren Tagen, dass aber doch andererseits auch - Jahr
eine lange Zeit ist, man ist hier schon zu häuslich eingerichtet und
auch das Essen wird einförmig. Nun also, da Ottla so
gut war und mir - ich kann nicht verstehn auf welche Weise, ein ärztliches
Zeugnis habe ich erst später Max Brod geschickt - 2 Monate erwirkt
hat bleibe ich vorläufig. Nächste Woche werde ich
nach Polianka fahren - der leitende Arzt des dortigen ausgezeichneten
Sanatoriums - es ist freilich fast so teuer wie Smokovec - ist jetzt verreist
und kommt erst nächste Woche zurück - werde mich dort untersuchen
lassen, hören, was er hinsichtlich einer Kur und besonders ihrer Dauer
sagt und dann vielleicht wenn ich aufgenommen werde - es wird nicht jeder
aufgenommen auch ist das Sanatorium voll besetzt - hin übersiedeln
(vorausgesetzt dass ich die Kraft habe mich hier loszureißen).
Der Vorschlag des Onkels - Sommerfrische, Gartenarbeit
- gefällt mir allerdings besser als alle Sanatorien, nur ist es jetzt
für eine Sommerfrische noch etwas zu früh, auch weiß ich
nicht, wo es sein sollte, wenn Ihr vielleicht von etwas derartigem hört,
schreibt mir bitte.
Wenn ich nun noch länger hier bleibe, werde ich allmählich verschiedene
Sachen brauchen, leichtere Kleider u.s.w. - eigentlich habe ich hier nur
ein Kleid in welchem ich schon ein - Jahr jeden Tag herumgehe und liege,
ein Festkleid ist es nicht mehr - wie wird man das herschaffen? Dringend
ist es aber noch nicht. Dann ist auch zu überlegen, was ich mit den
Wintersachen machen soll, die übrigens den ganzen Winter über
- es ist hier nicht Sitte - nicht geklopft worden sind.
Ein wenig habe ich diese Woche doch zugenommen 63.50 wiege ich, 6 kg 10
Zunahme.
Herzliche Grüße
allen
Euer Franz
da Ottla so gut war: Obwohl Kafka der Schwester
wegen ihres Zustandes weder seine Verhältnisse deutlich schildern
mochte noch sie um ein Gespräch mit dem Direktor hatte bitten wollen,
vermutete er doch gleich, dass sie aufgrund seines Briefes vom 9.
März möglicherweise etwas unternommen haben könnte (vgl.
Br 309 und Nr. 95). Am11. März bat er dann Max Brod ausdrücklich,
mündlich eine Verlängerung des Urlaubs zu erbitten, weil die
noch bis zum 19. März verbleibende Zeitspanne für ein formelles
Gesuch zu kurz war. Wegen Ottlas schnellem Eingreifen wurde Brods Gang
zum Büro unnötig. Kafka blieb nur noch übrig, Gesuch und
Zeugnis nachzureichen (vgl. Nr. 95) und sich beim Direktor für die
gewährte Urlaubsverlängerung zu bedanken. Er tat dies am 3. April:
Verehrter Herr Direktor!
Ich hätte schon längst geschrieben, aber ich war krank, im Bett,
mit hohem Fieber, die Krankheit ist auch jetzt noch nicht vorüber
und noch jetzt ist, wenigstens meiner Meinung nach, nicht festgestellt,
was es eigentlich ist, ob ein vorübergehender Darmkatarrh oder etwas
Schlimmeres. Viel von der Gewichtszunahme wird es mich jedenfalls gekostet
haben, die Lunge aber hat sich nach des Doktors heutiger Untersuchung und
Behauptung ungestört von dieser Krankheit auch in der letzten Zeit
weiter gebessert.
dass ich wieder um Urlaubsverlängerung gebeten habe, geschah
in Hilflosigkeit gegenüber der Lungenkrankheit, die ich eigentlich
erst hier, wo ich unter Lungenkranken lebe, in ihrer wirklichen Bedeutung
zum ersten Mal erkenne. Diese Urlaubsbitte wird mir erleichtert, ja ermöglicht,
durch die Geduld und Güte, mit der Sie, verehrter Herr Direktor, meine
Schwester und mein - ich wage gar nicht auszurechnen: wievieltes - Gesuch
aufgenommen haben und für die ich Ihnen tief dankbar bin.
Ich bleibe, verehrter Herr Direktor, mit ergebenen Grüßen
Ihr
Dr. F. Kafka (D 75)
werde ich nach Polianka fahren: Der Ort, wo sich
das Sanatorium des Dr. Guhr befand, liegt über 1100 Meter hoch (vgl.
Br 305 f.); Kafka blieb dann aber bis Ende August in Matliary.
Der Vorschlag des Onkels: Gemeint ist Kafkas Lieblingsonkel
Dr. Siegfried Löwy, Landarzt in Triesch in Mähren. Auch Max Brod
gegenüber hält Kafka das Leben "in einem Dorfe mit einer
leichten Arbeit" für das beste. (Br 306)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at