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[An Julie und Hermann Kafka]

[Matliary, ca. 13. März 1921
 


Liebste Eltern, durch besondere Folgerichtigkeit zeichnen sich meine Briefe nicht aus, zuerst will ich fort, dann will ich bleiben, dann will ich wieder fort und schließlich bleibe ich. Aber es erklärt sich ein wenig dadurch, dass es mir im Ganzen hier sehr gut gefällt, gar in diesen wunderbaren Tagen, dass aber doch andererseits auch - Jahr eine lange Zeit ist, man ist hier schon zu häuslich eingerichtet und auch das Essen wird einförmig. Nun also, da Ottla so gut war und mir - ich kann nicht verstehn auf welche Weise, ein ärztliches Zeugnis habe ich erst später Max Brod geschickt - 2 Monate erwirkt hat bleibe ich vorläufig. Nächste Woche werde ich nach Polianka fahren - der leitende Arzt des dortigen ausgezeichneten Sanatoriums - es ist freilich fast so teuer wie Smokovec - ist jetzt verreist und kommt erst nächste Woche zurück - werde mich dort untersuchen lassen, hören, was er hinsichtlich einer Kur und besonders ihrer Dauer sagt und dann vielleicht wenn ich aufgenommen werde - es wird nicht jeder aufgenommen auch ist das Sanatorium voll besetzt - hin übersiedeln (vorausgesetzt dass ich die Kraft habe mich hier loszureißen). Der Vorschlag des Onkels - Sommerfrische, Gartenarbeit - gefällt mir allerdings besser als alle Sanatorien, nur ist es jetzt für eine Sommerfrische noch etwas zu früh, auch weiß ich nicht, wo es sein sollte, wenn Ihr vielleicht von etwas derartigem hört, schreibt mir bitte.

Wenn ich nun noch länger hier bleibe, werde ich allmählich verschiedene Sachen brauchen, leichtere Kleider u.s.w. - eigentlich habe ich hier nur ein Kleid in welchem ich schon ein - Jahr jeden Tag herumgehe und liege, ein Festkleid ist es nicht mehr - wie wird man das herschaffen? Dringend ist es aber noch nicht. Dann ist auch zu überlegen, was ich mit den Wintersachen machen soll, die übrigens den ganzen Winter über - es ist hier nicht Sitte - nicht geklopft worden sind.

Ein wenig habe ich diese Woche doch zugenommen 63.50 wiege ich, 6 kg 10 Zunahme.

         Herzliche Grüße

        allen

         Euer Franz




da Ottla so gut war: Obwohl Kafka der Schwester wegen ihres Zustandes weder seine Verhältnisse deutlich schildern mochte noch sie um ein Gespräch mit dem Direktor hatte bitten wollen, vermutete er doch gleich, dass sie aufgrund seines Briefes vom 9. März möglicherweise etwas unternommen haben könnte (vgl. Br 309 und Nr. 95). Am11. März bat er dann Max Brod ausdrücklich, mündlich eine Verlängerung des Urlaubs zu erbitten, weil die noch bis zum 19. März verbleibende Zeitspanne für ein formelles Gesuch zu kurz war. Wegen Ottlas schnellem Eingreifen wurde Brods Gang zum Büro unnötig. Kafka blieb nur noch übrig, Gesuch und Zeugnis nachzureichen (vgl. Nr. 95) und sich beim Direktor für die gewährte Urlaubsverlängerung zu bedanken. Er tat dies am 3. April:


Verehrter Herr Direktor!

Ich hätte schon längst geschrieben, aber ich war krank, im Bett, mit hohem Fieber, die Krankheit ist auch jetzt noch nicht vorüber und noch jetzt ist, wenigstens meiner Meinung nach, nicht festgestellt, was es eigentlich ist, ob ein vorübergehender Darmkatarrh oder etwas Schlimmeres. Viel von der Gewichtszunahme wird es mich jedenfalls gekostet haben, die Lunge aber hat sich nach des Doktors heutiger Untersuchung und Behauptung ungestört von dieser Krankheit auch in der letzten Zeit weiter gebessert.

dass ich wieder um Urlaubsverlängerung gebeten habe, geschah in Hilflosigkeit gegenüber der Lungenkrankheit, die ich eigentlich erst hier, wo ich unter Lungenkranken lebe, in ihrer wirklichen Bedeutung zum ersten Mal erkenne. Diese Urlaubsbitte wird mir erleichtert, ja ermöglicht, durch die Geduld und Güte, mit der Sie, verehrter Herr Direktor, meine Schwester und mein - ich wage gar nicht auszurechnen: wievieltes - Gesuch aufgenommen haben und für die ich Ihnen tief dankbar bin.

Ich bleibe, verehrter Herr Direktor, mit ergebenen Grüßen

         Ihr

         Dr. F. Kafka (D 75)


werde ich nach Polianka fahren: Der Ort, wo sich das Sanatorium des Dr. Guhr befand, liegt über 1100 Meter hoch (vgl. Br 305 f.); Kafka blieb dann aber bis Ende August in Matliary.


Der Vorschlag des Onkels: Gemeint ist Kafkas Lieblingsonkel Dr. Siegfried Löwy, Landarzt in Triesch in Mähren. Auch Max Brod gegenüber hält Kafka das Leben "in einem Dorfe mit einer leichten Arbeit" für das beste. (Br 306)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at