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[An Ottla Kafka]
Liebste Ottla nur paar Worte, ich komme ja bald, eigentlich liegt schon
lange ein Brief für Dich da, so lange bis er veraltet ist und ich
ihn weggeworfen habe.
Zunächst noch Dank für alles, alles hast Du sehr gut gemacht,
- außer bei Taussig! Das war sehr schlecht, den Rat einen Schwindler
zu nennen! - so als wärest Du nicht schon eine große Frau, die
nur noch für große Dinge Zeit hat. Wie bist Du doch eigentlich
im Rang verändert seit dem letzten Jahr!
Auf dem einen Bild ist die tschechische Gesellschaft, neben mir die 18jährige,
neben ihr das kranke Fräulein, unten der gefällige Herr. Warum
ich gar so verkrümmt dastehe, weiß ich nicht. Auf dem andern
Bild ist der Aufrechtstehende mit den Schneeschuhen der Kaschauer, die
hebräische Widmung ist von ihm. Es heißt: "Als Zeichen
der großen Ehre, die ich habe Dir gegenüber". Es ist nicht
ganz verständlich, aber gewiß sehr gut gemeint, wie alles, was
er für mich tut. überhaupt, erstaunlich gut war man hier mir
gegenüber.
Noch 2 Porträts von mir lege ich bei, das eine ist
von der 18jährigen, es ist leider meine Schuld, dass ich nicht
so aussehe, so süß und stark.
Die Bücher haben dem Mediciner große Freude gemacht. Sein erster
Dank als ich sie ihm gab, bestand darin, dass er "Herr Doktor!"
rief und mit den Büchern weglief. Er hat mich übrigens in der
letzten Zeit sehr beschäftigt.
Was Du von der Anstalt und Palästina sagst, sind
Träume. Die Anstalt ist für mich wie ein Federbett, so schwer
wie warm. Wenn hinauskriechen würde, käme ich sofort in die Gefahr
mich zu verkühlen, die Welt ist nicht geheizt.
Jetzt kurz vor der Abfahrt von hier werde ich unsicher, wie übrigens
bei jedem Abschied (nur in Meran wußte ich, dass es höchste
Zeit war wegzufahren aus jenem Bergkessel, der Kessel in jeder Hinsicht
war) die wunderbaren Tage jetzt nach dem überstandenen Winter locken
zu bleiben (zeitweilig war das Wetter eine Qual für mich wie noch
niemals), der Doktor droht mir täglich mit allem
Bösen wenn ich wegfahre und verspricht mir alles Gute wenn ich bis
zum Herbst bleibe, aber ich bin müde des um-Urlaub-bittens, müde
des für-Urlaub-dankens, nur dann würde ich es gern annehmen,
wenn der Direktor mir z. B. schriebe: "Lieber Herr Kollega, gestern
in der Nacht ist mir eingefallen, ob Sie nicht vielleicht noch länger
draußen bleiben sollten. Ich bitte Sie dringend noch ein Jahr Urlaub
anzunehmen. Telegraphieren Sie mir einfach "ja" und Sie haben
den Urlaub; mit tschechischen Gesuchen und Dank-Briefen müssen Sie
sich nicht anstrengen, Sie würden ja damit doch nur Ihre Frau Schwester
und Ihren Herrn Schwager bemühen. Einer hoffentlich günstigen
Antwort entgegensehend und Ihnen baldige oder spätere Genesung wünschend,
bleibe ich Ihr dankschuldiger u.s.w." Ja, dann würde ich gern
noch bleiben. Auch deshalb würde ich gern bleiben, weil mir hier Lungenkranke
(und andere, ihnen nicht sehr entfernte, noch schlimmere Leute)
viel verdächtiger geworden sind als früher. Ich glaube auch weiterhin
nicht an Ansteckung, die Küchenmädchen hier z. B. essen die überreste
von den Tellern solcher Kranker, denen gegenüber zu sitzen ich mich
scheue, und sie werden dadurch gar nicht krank, sondern noch blühender
und ein liebes kleines Kind ist hier in der Küche (seine Mutter arbeitet
dort, sein Vater ist unbekannt) das wird auch ganz bestimmt nicht krank
werden, trotzdem es sich von solchen Resten nährt. (übrigens
das abgerissenste und fröhlichste Wesen hier, auch sehr klug, ich
kann mich aber mit ihm nicht verständigen, es spricht nur ungarisch;
als jemand sah wie es nahe der Rodelbahn spielte und in Gefahr war überfahren
zu werden - es ist noch kaum 5 Jahre alt - sagte der Mann, es solle sich
in achtnehmen. Der kleine Junge aber sagte: Mich d ü r f e n
sie nicht überfahren, ich bin doch ein Kind) Also an eine Ansteckung
der Gesunden glaube ich nicht, aber in der Stadt ist niemand ganz gesund
oder wenigstens nicht so stark dass er unter allen Umständen
der Ansteckungsgefahr widerstehen könnte. Ich verstehe diese Ansteckungsmöglichkeit
nicht, (die ärztlichen Erklärungen, soweit ich sie verstehe,
gefallen mir nicht) aber an diese Möglichkeit glaube ich, auch deshalb
also gehe ich nicht gern auf meinen Platz in das häusliche Nest zurück,
wo sich ringsherum die kleinen Schnäbel aufmachen, um vielleicht das
Gift aufzunehmen, das ich verteile.
Ich schreibe wie wenn ich doch nicht schon in paar Tagen käme, nun
bis Sonntag hat der Direktor Zeit den Brief zu schreiben.
Im übrigen aber freue ich mich schon, Dich zu sehn und Elli und Valli.
Dem Fräulein Skall danke besonders schön für ihren
Gruß. Traurig, was Du von ihr schreibst. Aber diesem Verhältnis
(nicht ihr) stand das Unglück auf der Stirn geschrieben.
Von Tante Julie schriebst nun auch Du nichts mehr. Nun ich komme ja.
Dein
Übrigens fahre ich vielleicht schon Montag oder Dienstag
von hier weg, weil die Lomnitz-Poprader Bahn vom 15. III. bis 15. V. nicht
fährt und es mit der elektrischen Bahn zu umständlich ist.
Aus Nr. 95 geht hervor, dass Nr. 93 zwei Tage vor einem Brief konzipiert
wurde, den Kafka in der gleichen Sache an Max Brod richtete. Da er dem
Freund gegenüber erwähnt, er bekomme das dem Direktor vorzulegende
Zeugnis "erst nachmittag" (Br 307), dieses Gutachten aber auf
den m. März 1921 datiert ist (vgl. D 74), muß das vorliegende
Schreiben am g. dieses Monats formuliert worden sein.
im Rang verändert: durch die Eheschließung
im Juli 1920.
2 Porträts von mir: Die andere Zeichnung stammt
wahrscheinlich von dem in Kafkas an Robert Klopstodi gerichteten Briefen
immer wieder erwähnten Fräulein Irene.
Was Du von der Anstalt und Palästina sagst:
Offenbar hatte Ottla vorgeschlagen, Kafka solle kündigen und nach
Palästina übersiedeln. Über seinen mehrfach belegten Plan,
nach Palästina zu reisen, H. Binder, Kafkas Hebräischstudien,
in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft m (1967), S. 544 ff.
der Doktor droht mir täglich: Vgl. Br 305 f.
Dieser Satz (bis " . . . bleibe") ist offenbar von Ottla unterstrichen
worden und war der Ausgangspunkt ihrer Intervention beim Direktor (vgl.
Nr. 94 und 95).
noch schlimmere Leute: dazu Br 293 f.
bis Sonntag: Gemeint ist der 19. März, Kafka
hatte nämlich nur einen dreimonatigen Erholungsurlaub genehmigt bekommen,
der an diesem Tag endete (vgl. Br 307 und 308).
für Ihren Gruß: Dahinter eine Zeile unleserlich.
Vgl. auch die Anmerkungen zu Nr. 86.
Montag oder Dienstag: Den wahren Grund für
diese Vorverlegung des Abreisetermins nennt Kafka in Nr. 95.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at