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Milena Jesenská an Max Brod

(Vermutlich Anfang Januar 1921)


In tschechischer Sprache geschrieben; übersetzt von Max Brod und ungekürzt wiedergegeben.


Lieber Herr Doktor.

Verzeihen Sie, dass ich nicht deutsch schreiben kann. Vielleicht können Sie so viel Tschechisch, dass Sie mich verstehen; verzeihen Sie, dass ich Sie belästige. Ich weiß mir nur einfach keinen Rat, mein Gehirn erträgt keine Eindrücke und keine Gedanken mehr, nimmt keine mehr auf, ich weiß nichts, ich fühle nichts, ich begreife nichts; es scheint mir, dass mir in diesen Monaten etwas ganz Entsetzliches zugestoßen ist, aber ich weiß nicht viel davon. Ich weiß überhaupt nichts von der Welt, ich fühle nur, dass ich mich töten würde, wenn ich mir irgendwie das zu Bewußtsein bringen könnte, was sich eben meinem Bewußtsein entzieht.

Ich könnte Ihnen erzählen, wie und wodurch und warum alles geschehen ist; ich könnte Ihnen alles über mich, über mein Leben erzählen; aber wozu das - und ferner; ich weiß es nicht, ich halte nur Franks Brief aus der Tatra in der Hand, eine ganz tödliche Bitte und zugleich einen Befehl: "Nicht schreiben und verhindern, dass wir zusammenkommen, nur diese Bitte erfülle mir im stillen, sie allein kann mir irgendein Weiterleben ermöglichen, alles andere zerstört weiter." Ich traue mich nicht, eine Frage, ein Wort zu senden; ich weiß auch nicht, was ich von Ihnen erfragen will. Ich weiß nicht, was - weiß nicht, was ich wissen will. Jesus Christus, ich möchte meine Schläfen ins Gehirn hineindrücken. Nur eines sagen Sie mir, Sie sind mit ihm während der letzten Zeit beisammen gewesen, Sie wissen es: bin ich schuldig oder bin ich nicht schuldig? Ich bitte Sie um Gottes willen, schreiben Sie mir keinen Trost, schreiben Sie mir nicht, dass niemand schuld daran ist, schreiben Sie mir keine Psychoanalyse. Das alles, hören Sie, das alles, was Sie mir schreiben könnten, weiß ich. Ich habe zu Ihnen Vertrauen, Max, in der vielleicht schwersten Stunde meines Lebens, Gott weiß es; ich bitte Sie, haben auch Sie Vertrauen. Bitte verstehen Sie, was ich will. Ich weiß, wer Frank ist; ich weiß, was geschehen ist, und ich weiß nicht, was geschehen ist, ich bin an den Grenzen des Wahnsinns; ich habe mich bemüht, richtig zu handeln, zu leben, zu denken, zu fühlen, dem Gewissen gemäß, aber irgendwo ist Schuld. Darüber will ich hören. Freilich weiß ich nicht, ob Sie mich verstehen können. Ich will wissen, ob es mit mir so steht, dass auch unter mir Frank leidet und gelitten hat wie unter jeder andern Frau, so dass seine Krankheit ärger wurde, so dass er auch vor mir in seine Angst fliehen mußte und so dass auch ich jetzt verschwinden muß, ob ich schuld daran bin oder ob es eine Konsequenz seines eigenen Wesens ist. Ist es klar, was ich sage? Ich muß es wissen. Sie sind der einzige, der vielleicht etwas weiß. Ich bitte Sie, antworten Sie mir, bitte antworten Sie mir die völlig nackte, einfache, allenfalls brutale Wahrheit, nämlich das, was Sie wirklich denken. [Drei Zeilen gestrichen, unlesbar.] Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir antworten. Das ist ein gewisser Ausgangspunkt für mich. Ferner bitte ich um Nachricht, wie es ihm geht? Seit Monaten weiß ich nichts von ihm. [Zwei Zeilen gestrichen.] Meine Adresse: M. K., Wien VIII, Postamt 65, Bennogasse. Verzeihen Sie, ich kann den Brief nicht umschreiben; ich kann ihn nicht einmal lesen. Ich danke. Milena.




Tartra: Kafka befand sich seit dem 18. Dezember 1920 zur Kur in Matliary (Hohe Tatra).


"Nicht schreiben und . . . weiter.": Diesen Satz aus dem - offenbar verlorengegangenen - Abschiedsbrief Kafkas zitiert Milena deutsch.


M.K.: M. K[ramer]: Milenas Deckname für postlagernde Sendungen, vgl. Brief vom [13. Juli 1920]. S. 109.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at