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An Robert Klopstock

[Prag, Dezember 1921]
 

Lieber Robert, übertreiben Sie nicht ein wenig im Urteil über Ilonka? Sie ist ängstlich, von der Welt bedrückt, traut ihrem Urteil nicht, hat aber genug gute Nerven, um sich nach fremdem Urteil zu verhalten, hoffentlich hat sie diese Nerven. Und ist freilich zart genug, daraus keine Heldentat zu machen, sondern den Jammer sich und andern einzugestehn, leider hat sie diese Zartheit. Übrigens halte ich es nicht durchaus für ein Unglück, daß sie dem Vater gefolgt hat; wer seinem Urteil traut, muß nicht immer recht haben, wer aber seinem Urteil nicht traut, hat wohl immer recht. Und außerdem ist die Ehe, meistens wenigstens, ein verhältnismäßiges Glück, nur den Brautstand muß man überstehn. Darin habe ich Ilonka in meinem Brief zu bestärken gesucht. Wissen Sie etwas Neues von ihr? Und warum schreiben Sie kein Wort von Frau Galgon?

Sie übertreiben hinsichtlich Ilonkas, ich hinsichtlich Irenens. Ich übertreibe vor Glück, daß ein solcher Kindertraum irgendwo in meiner Nähe wenigstens der Form nach gelebt wird, daß es soviel Naivität, infolgedessen soviel Mut, infolgedessen soviel Möglichkeiten auf der Welt gibt. Bei den Einzelheiten müßte man sich aber nicht so aufhalten, trotzdem gerade sie es sind, die mich glücklich machen. Was ist denn hier Kraus, Kokoschka u. s. w.? Diese Namen nennt man in diesen Kreisen Dresdens täglich so oft wie in Matlar die Lomnitzer Spitzen und bestenfalls im gleichen Sinn: die ewige Monotonie der Berge müßte einen verzweifeln lassen, wenn man sich nicht manchmal zwingen könnte, sie schön zu finden. Die "wundertätigen" Briefe (Robert!) waren drei Bleistiftzettel, in denen ich ihr und mir gratulierte.


Mein Zustand ist nicht schlechter als in Matlar im Winter; Temperatur und Gewicht sind nicht ganz so gut wie in Madar, sonst aber ist keine Verschlechterung, gewiß nicht. Als Werfel hier war, war mir wohl etwas schlechter als jetzt, das war aber nicht der Grund des Verbotes. Der Arzt ist überhaupt gegen den Semmering, weil er zu rauh ist, überhaupt gegen jeden dauernden gewaltsamen Wechsel, außerdem gegen eine Unterbrechung seiner Behandlung. In gewissem Widerspruch dazu steht allerdings, daß er Ende Jänner mit seiner Familie nach Spindelmühle fährt (Riesengebirge) und mich mitnehmen will, allerdings nur für vierzehn Tage.

Haben Sie in der Prager Presse den Artikel von Upton Sinclair über Dr. Abram gelesen, ich hielt es für einen Spaß, aber man leugnet es.

. . .

In Ihrer Sache ist teils durch meine Nachlässigkeit, teils ohne meine Schuld, noch nichts geschehn. Zuerst hat es mein Cousin übernommen, der mit Münzer durch seine Frau verwandt ist, aber der Cousin kränkelte immerfort und ist jetzt ernstlich krank. Ich nahm also die Papiere von dort und gab sie Felix Weltsch, vielleicht höre ich Sonntag etwas darüber.

Ihr K


Grüßen Sie Glauber, Szinay, Steinberg. Und Holzmann? Er hat Ihnen George geschickt?


Unter den Zeitungen, die ich Ihnen schicke, ist ein "Reformblatt" mit einem Aufsatz über Röntgenbehandlung. Sollte etwas Bemerkenswertes darin sein, schreiben Sie mir bitte gelegentlich ein paar Worte darüber, die Zeitungen sind schon eingepackt, ich will sie nicht auseinandernehmen.



Arbeitskopie:

Eigenh. Brief mit U. ("K"). 31/2 Seiten (46 Zeilen in Tinte auf blau karier­ tem Doppelblatt) . Mit horizontaler Knickspur. Gr;-8vo (1 4,4:22,8 cm) . [Prag] , [Dezember 1921] (Dat. nach beiliegendem Umschlag von R. Klop­ stock "Dec. 1921").

Lieber Robert , übertreiben Sie nicht ein wenig im
Urteil über Ilonka? Sie ist ängstlich, von der
Welt bedrückt, traut ihrem Urteil nicht,
hat aber genug gute Nerven, um sich nach
fremdem Urteil zu verhalten, hoffentlich hat
sie diese Nerven. Und ist freilich zart genug,
daraus keine Heldentat zu machen, sondern
den Jammer sich und andern einzugestehn,
leider hat sie diese Zartheit. Übrigens halte
ich es nicht durchaus für ein Unglück, dass
sie dem Vater gefolgt hat; wer seinem Urteil
traut, muss nicht immer recht haben, wer aber
seinem Urteil nicht traut, hat wohl immer
Recht. Und ausserdem ist die Ehe meistens
wenigstens ein verhältnisrnässiges Glück, nur
den Brautstand muss man überstehn. Darin
habe Ilonka in meinem Brief zu bestärken
gesucht. Wissen Sie etwas Neues von ihr?
Und warum schreiben Sie kein Wort von
Frau Galgon?
Sie übertreiben hinsichtlich I1onkas, ich hin-
sichtlich Irenens. Ich übertreibe vor Glück,
dass ein solcher Kindertraum irgendwie in
meiner Nähe wenigstens der Form nach

gelebt wird, dass es soviel Naivität, infolge-
dessen soviel Mut, infolgedessen sovid Möglich-
keiten auf der Welt gibt. Bei den Einzelnheiten
müsstet man sich aber nicht so aufhalten,
trotzdem gerade sie es sind, die mich glück-
lich machen. Was ist denn hier Kraus, Kokosch-
ka u.s.w. ? Diese Namen nennt man in diesen
Kreisen Dresdens täglich so oft wie in Matlar
die Lomnitzer Spitzen und besten Falls im
gleichen Sinn: die ewige Monotonie der Berge
müsste einen verzweifeln lassen, wenn man
sich nicht manchmal zwingen könnte, sie
schön zu finden. <Die "wundertätigen" Briefe (Robert!)
waren 3 Bleistiftzettel, in denen ich
ihr und mir gratulierte.)>
Mein Zustand ist nicht schlechter als in
Matlar ; Temperatur und Gewicht sind nicht
ganz so gut wie in Matlar, sondern sonst
aber ist keine Verschlechterung, gewiss nicht.
Als Werfel hier war, war mir wohl etwas
schlechter, als jetzt, das war aber nicht der
Grund des Verbotes. Der Arzt ist überhaupt
gegen den Semmering, weil er zu rauh ist, über-
haupt gegen jeden dauernden gewaltsamen
Wechsel; ausserdem gegen eine Unterbrechung
seiner Behandlung. In gewissem Wider-


spruch dazu steht allerdings, dass er Ende
Jänner mit seiner Familie nach Spindelmühle
fährt (Riesengebirge) und mich mitnehmen
will, allerdings nur für
14 Tage.

Haben Sie in der Prager Presse den Artikel
von Upton Sinclair über Dr. Abram <gelesen>, ich
hielt es für einen Spass, aber man leugnet es.

Den Brief des Bruders lege ich bei. Ein
wenig merkwürdig ist er, nicht? So als ob
er etwas verschweigen würde, vielleicht wirklich
ein Heirat oder anderes. Seine Gründe für
das Dortbleiben sind doch eigentlich keine.
Oder schreibt er nur nach Ungarn so vor-
sichtig? Ihren Brief und das Telegramm hat
er also nicht bekommen. Von Palästina
kein Wort.

In Ihrer Sache ist teils durch meine Nach-
lässigkeit, teils ohne meine Schuld noch
nichts geschehn. Zuerst hat es mein Cousin
übernommen, der mit Münzer durch seine
Frau verwandt ist, aber der Cousin kränkel-
te immerfort: und ist jetzt ernstlich krank.
Ich nahm <sie> also von dort und gab sie


Felix Weltsch, vielleicht höre ich Sonntag
etwas darüber
Ihr
K
Grüssen Sie Glauber, Szinay, Steinberg.
Und Holzmann? Er hat Ihnen George
geschickt?

Unter den Zeitungen die ich Ihnen schicke ist
ein "Reformblatt" mit einem Aufsatz über Röntgen
behandlung. Sollte etwas Bemerkenswertes darin
sein, schreiben Sie mir bitte gelegentlich paar
Worte darüber, die Zeitungen sind schon einge-
packt, ich will sie nicht auseinandernehmen.


Original: Inlibris Verlag
Quelle Text: Briefe 1902 - 1924, S. 351; Kafkas letzter Freund, S. 32 - 34
Quelle Anmerkungen: Kafkas letzter Freund, S. 34 - 36

Mit Abweichungen bzw. unvollständig (8 ½ Zeilen fehlen) abgedruckt in Br 366f.

1] übertreiben Sie nicht ein wenig im Urteil über Ilonka?-. vgl. Nr. 2, Anmerkung 14
2] warum schreiben Sie kein Wort von Frau Galgon?: vgl. Nr. 2, Anmerkung 14
3] Sie übertreiben hinsichtlich Ilonkas, ich hinsichtlich Iren ens: vgl. Nr. 2, Anmerkung 14 bzw. Nr. 3, Anmerkung 3
4] irgendwie in meiner Nähe: in Br: irgendwo in mein er Nähe
5] Bei den Einzelnheiten: in Br: Bei den Einzelheiten
6] Was ist denn hier Kraus, Kokoschka usw.: In einem Essay für Das Kunstblatt schrieb der Kunstkritiker Paul Westheim 1921 über Kokoschka, der sich seit 1916 wiederholt in Dresden aufgehalten und 1919 eine Professur an der dortigen Kunstakademie angetreten hatte: "Inzwischen ist Kokoschka nicht nur dieser berühmte Künstler geworden; jede Äußerung seiner Hand, wie das nun einmal unvermeidlich war, ist zu einem Marktwert geworden" (PW 322; zit. n. BD 28). Diese Präsenz und Popularität des Malers, auf die Kafka hier wohl anspielt, dürfte - wie die Formulierung "in diesen Kreisen" andeutet - gleichermaßen Karl Kraus für sich in Anspruch nehmen, der seinerseits mit anderen in Dresden ansässigen und mit Kokoschka bekannten Künstlern zumindest in Verbindung stand, darunter der Kritiker und Schriftsteller Camill Hoffmann (1878-1944) und der Wiener Schriftsteller und Regisseur Berthold Viertel (1885-1953; vgl. auch Nr.34, Anm.2). Letztgenannter war zwischen 1918 und 1922 am Sächsischen Landestheater in Dresden tätig und veröffentlichte 1921 im Dresdner Verlag Kaemmerer den Essay "Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit (1916/1917 bereits als Vorabdruck in der Berliner Zeitschrift "Die Schaubühne erschienen") . In einem Brief an Karl Kraus vom 8 . April 1919 berichtet Viertel von einem Besuch bei Kokoschka, der sein "Nachbar" sei (vgl. Berthold Viertel (1885-1953). Eine Dokumentation. Hrsg. von Friedrich Pfäfflin. München, Kösel, 1969, S. 18-22). Kafka selbst war persönlich mit Viertel bekannt, der im Jänner 1918 Feuilletonredakteur und Theaterkritiker des Prager Tagblatts wurde und um diese Zeit, nach einem Bericht von Johannes Urzidil, zur "Tafelrunde" im Cafe Arco gehörte (vgl . Die Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Hrsg. von Eduard Goldstücker. Berlin und Neuwied, Luchterhand, 1967, S. 92, Anm. 1 95) . In einer Postkarte vom 17. Dezember 1923 an Max Brod erwähnt Kafka neben Franz Blei auch "Viertel [ . ] es sind doch fast Freunde" (Br 468) . Der aus Kolin stammende Camill Hoffmann war bis 1911 in Wien als Feuilletonredakteur der Zeit tätig gewesen und war dann für mehrere Jahre als Redakteur der Dresdner Neuen Nachrichten nach Dresden übersiedelt; 1918 wurde er vom tschechischen Staatspräsidenten Tomás G. Masaryk für den Aufbau der Prager Presse in die Tschechoslowakei zurückgerufen.
7] Als Werfel hier war: Auch im Jahr darauf lud Werfel Kafka ein, ihn am Semmering bzw. in Venedig zu besuchen. In dem vermutlich nicht abgeschickten Brief von Dezember 1922 (vgl. auch Nr. 38, Anmerkung 2) heißt es: "Hindernisse sind die Krankheit, der Arzt (den Semmering lehnt er wieder unbedingt ab, Venedig im Vorfrühling nicht unbedingt) [ .. ]" (Br 425).
8] war mir wohl etwas schlechter, als jetzt: in Br: war mir wohl etwas schlechter als jetzt
9] Der Arzt ist überhaupt gegen den Semmering [. .}: Zu Dr. Ono Hermann und der Reise ins Riesengebirge vgl. auch Nr. 2, Anmerkung 1 und Nr. 14, Anmerkung 1.
10] Haben Sie in der Prager Presse den Artikel von Upton Sinclair über Dr. Abram : Unter dem Titel "Das Haus der Wunder" veröffentlichte die Prager Presse einen Bericht Sindairs "über Dr. Albert Abrams revolutionierende Entdeckung: Die Feststellung der Diagnose vermittels der Radioaktivität des Blutes" (Morgen-Ausgabe v. 4. XII. 1921 , Nr. 249, Sonntagsbeilage, S.11 f.). Kafka selbst setzt sich eingehend damit auseinander und bekennt wenig später Klopstock gegenüber: "Solche Dinge, solche Bekenntnisse sind es, die mir die Welt seit jeher fern halten [ . .. ]" (Br 367)
Nach Auffassung des amerikanischen Mediziners Albert Abrams (1863-1 924) bildeten Elektronen (und nicht Zellen) die kleinsten Baueinheiten des menschlichen Körpers; Krankheit definierte er als Störung der Harmonie der Elektronenschwingungen (New Concepts in Diagnosis and Treatment, San Francisco, 1916) . Um diese "Disharmonie" zu hestimmen und zu behandeln, ersann er spezielle Apparate, die er auch selbst vertrieb. Seine heiß umstrittenen Lehren griffen rasch um sich; im Jahre 1923 gab es weltweit etwa 3500 Spezialisten für "E. R. A." (oder "Elektronen-Relation nach Abrarns ). Vgl. Upton Sindair, In Defense of Albert Abrams, in: Survey, 1 5 . III. 1923 (keine frühere VeröffentliChung nachgewiesen) sowie LtF 480, Anm. 121. Zur Prager Presse vgl. Nr. 7, Anmerkung 1.
11 ] Den Brief des Bruders lege ich bei [...] Von Palästina kein Wort: Fehlt in Br; zu K1opstocks Bruder vgl. Nr. 2, 4 und 12, Anmerkung 1; "Von Palästina kein Wort" bezieht sich vermutlich auf Kafkas Jugendfreund Hugo Bergmann (vgl. Nr. 10, Anmerkung 11).
12] ein Heirat: so im Original
13] teils ohne meine Schuld noch nichts geschehn: in Br: teils ohne meine Schuld, noch nichts geschehn
14] mein Cousin übernommen, der mit Münzer durch seine Frau verwandt ist: Robert Kafka, vgl. Ne. 1 , Anmerkung 4; zu Egmont Münzer vgl . Nr. 1, Anmerkung 4, sowie Nr.3,8,13, 25 und 29.
15] Ich nahm also <die Papiere> von dort und gab sie Felix Weltsch: zu Felix Weltsch vgl. Nr.13, Anmerkung 1
16] "Grüssen Sie Glauber, Szinay, Steinberg. Und Holzmann? Er hat Ihnen George geschickt?": zu Dr. Glauber vgl. Nr. 2, Anmerkung 14, sowie Nr. 7, 8, 10 und 27; Anmerkung 2; zu Szinay vgl. Nr. 2, Anmerkung 14, und Nr. 12 ; Steinberg. n. e.; zu Holzmann vgl . Nr. 2, Anmerkung 12, sowie Nr. 3 und 11 . Bei dem von Kafka erwähnten Buch Stefan Georges, das Holzmann K1opstock geschickt habe, handelt es sich möglicherweise um "Der siebente Ring" (Berlin, Georg Bondi, 5 1920), dessen Titelblatt der Namenszug Robert K1opstocks ziert (vgl. KB 65, Nr. 72) und das Kafka augenscheinlich von K1opstock geliehen, jedoch nicht zurückgegeben hat.
17] Unter den Zeitungen die ich Ihnen schicke ist ein: in Br: Unter den Zeitungen, die ich Ihnen schicke, ist ein
18] Reformblatt: Das von dem Warnsdorfer Fabrikanten Moriz Schnitzer ( 1861 - 1939) herausgegebene "Reformblatt für Gesundheitspflege. Organ des Vereins für Naturheilkunde in Warnsdorf" erschien seit 1897. Kafka, der den "Naturheilapostel Fabrikant Schnitzer (FK 114) 1911 kennengelernt hatte, begeisterte sich für dessen Heilmethode und übersandte die Zeitschrift auch seiner Schwester Otda (vgL BO 72, Nr. 71 ) . In einem von Mitte/Ende Oktober 1917 datierten Brief an Felix Weltsch heißt es über die Persönlichkeit des Mannes, der ihm auf einen wohl im Monat zuvor verfaßten Brief nicht geantwortet hatte (vgL Br 171) : "[...] man unterschätzt doch solche Leute leicht. Er ist ganz kunstlos, daher großartig aufrichtig, daher dort, wo er nichts hat, als Redner, Schriftsteller, selbst als Denker nicht nur unkompliziert, wie Du sagst, sondern geradezu blödsinnig Setze Dich ihm aber gegenüber, sieh ihn an, suche ihn zu überschauen, auch seine Wirksamkeit, versuche für ein Weilchen Dich seiner Blickrichtung zu nähern - er ist nicht so einfach abzutun" (Br 187).
19] schreiben Sie mir bitte gelegentlich paar Worte darüber. in Br: schreiben Sie mir bitte gelegentlich ein paar Worte darüber

Letzte Änderung: 28.3.2011werner.haas@univie.ac.at