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An Robert Klopstock

[Prag, Anfang Dezember 1921]
 

Lieber Robert, merkwürdig die Geschichte Ihres Onkels, wie von Pallenberg gespielt. Die Luft des Zimmers spürt man in Ihrem Brief. Was aber nachher kam, haben Sie mir nicht geschrieben, nur was die Staatsbürgerschaft betrifft.

Die Berufswahl - nun, daß Sie etwas anderes als Arzt werden sollten, daran habe ich nie gedacht, seitdem ich Sie nur ein wenig kenne. Daß das eine Beschäftigung nur für Wohlhabende sei, stimmt wallrscheinlich für Mitteleuropa, für die übrige Welt und besonders für Palästina, das sich so erfreulich in Ihren Gesichtskreis zu schieben beginnt, nicht. Und eine physische Beschäftigung ist es doch auch. Und dann Halb- und Halb-Berufe, d. h. Berufe ohne Ernst sind abscheulich, ob sie physisch oder geistig sind, und werden, wenn sie menscherfassend sind, herrlich, ob physisch oder geistig. Das ist schrecklich einfach zu erkennen und es ist schrecklich schwer, den lebendigen Weg hindurch zu finden. Für Sie übrigens nicht einmal so schwer, denn Sie sind Arzt. Hauptsächlich gilt es ja nur für die Durchschnittsmasse der Juristen, daß sie erst zu Staub zerrieben werden müssen, ehe sie nach Palästina dürfen, denn Erde braucht Palästina, aber Juristen nicht. Ich kenne flüchtig einen Prager, der nach ein paar Jahren Jusstudium es gelassen hat und Schlosserlehrling geworden ist (gleichzeitig mit dem Berufswechsel hat er geheiratet, hat auch schon einen kleinen Jungen), ist jetzt fast ausgelernt und fährt im Frühjahr nach Palästina. Freilich gilt bei solchem Berufswechsel gewöhnlich, daß die Lehrzeit Unstudierter drei Jahre, die Lehrzeit Studierter sechs und mehr Jahre beträgt. Übrigens war ich letzthin in einer Ausstellung von Lehrlingsarbeiten, wo aus allen Handwerken nach ein- bis zweijähriger Lehrzeit schon erstaunliche Leistungen (allerdings Unstudierter) zu sehen waren.

Daß Ihre Cousine nicht in Berlin bleibt, ist merkwürdig; es bedeutet doch etwas, als halbwegs freier Mensch Berlin zu verkosten. Es spricht sehr für die Kunst Ihrer Cousine oder sehr gegen sie, daß sie so leicht Berlin verläßt. Das andere aber, daß sie nicht über die Tatra fährt und nicht mit mir sprechen will, das ist nicht merkwürdig und wundert mich nicht.

Wenn Sie "Jawne und Jerusalem" von Bergmann nicht haben, werde ich es Ihnen schicken.

Wie leben Sie jetzo Was arbeiten Sie? Bei meinem Cousin war ich noch nicht wieder. Ich fange auch an zu den Leuten zu gehören, die keine Zeit haben. Der Tag ist genau eingeteilt zwischen Liegen, Spazierengehn und dgl., nicht einmal zum Lesen habe ich Zeit und Kraft. Nach ein paar fieberfreien Tagen jetzt wieder Fieber. Der Arzt hat mir nur einen Tee verschrieben, der, wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, kieselsäurehaltig ist und Kieselsäure soll, wie er irgendwo (hoffentlich in keiner humoristischen Zeitschrift) gelesen hat, die Vernarbung befördern. Vielleicht versuchen Sie ihn auch. Ich schreibe Ihnen das Rezept ab, wenn ich hinauf in meine Wohnung komme, ich schreibe jetzt in der Wohnung meiner Schwester, mein Zimmer, die kalte Hölle, ist ungeheizt.

Herzliche Grüße, auch Glauber und Steinberg.

Ihr K


Schreiben Sie mir von Ilonka und Frau Galgon.

Einen Brief und das Lehrbuch müssen Sie von mir bekommen haben.




Palästina: Die zionistische Gesinnung Kafkas äußerte sich unter anderem darin, daß er für jeden Juden Palästina als das natürliche Betätigungsfeld ansah.


Jawne und Jerusalern: Hugo Bergmann, Jawne und Jerusalem. Gesammelte Aufsätze. Berlin, 1919



Arbeitskopie:

Eigenh. Brief mit U. ("K"). 4 Seiten (80 Zeilen in Tinte auf 2 Blatt; davon 5 Zeilen in Bleistift auf Bl. 2 verso). Mit horizontaler und vertikaler Knickspur. Tinte stellenweise unbedeutend verwischt. Gr.-8vo ( 14,5:22,8 cm). [Prag], [Anfang Dezember 1921 ] (Dat. nach Br).

Lieber Rohert, merkwürdig die Geschichte Ihres
X Onkels, wie von Pallenberg gespielt. Die
Luft des Zimmers spürt man in Ihrem Brief. Was
aber nachher kam haben Sie mir nicht geschrieben,
nur was die Staatsbürgerschaft betrifft.
Die Berufswahl - nun, dass Sie etwas
anderes als Arzt werden sollten, daran habe
ich nie gedacht, seit dem ich Sie nur ein
wenig kenne. Dass das eine BeschäFtigung nur
für Wohlhabende sei, stimmt wahrscheinlich für
Mitteleuropa, für die übrige Welt und beson-
ders für Palästina, das sich so erfreulich
in Ihren Gesichtskreis zu schieben beginnt, nicht.
Und eine physische Beschäftigung ist es doch
auch. Und dann 1/10 und 1/9 Berufe d. h. Berufe
ohne Ernst sind abscheulich ob sie physisch
oder geistig sind und werden, wenn sie
menscherfassend sind, herrlich, ob physisch
und geistig. Das ist schrecklich einfach zu
erkennen und es ist schrecklich schwer, den lebendi-
gen Weg hindurch zu finden. Für Sie übrigens
nicht einmal so schwer, denn Sie sind Arzt.
Hauptsächlich gilt es ja nur für die
Durchschnittsmasse der Juristen, dass sie erst


erst zu Staub zerrieben werden müssen, ehe
sie nach Palästina dürfen, denn Erde braucht
Palästina, aber Juristen nicht. Ich kenne flüch-
tig einen Prager, der nach paar Jahren Jus-
studium es gelassen hat und Schlossereilehrling
geworden ist (gleichzeitig mit dem Berufs-
wechsel hat er geheiratet, hat auch schon einen
kleinen Jungen), ist jetzt fast ausgelernt und
fährt im Frühjahr nach Palästina. Freilich
gilt bei solchem Berufswechsel gewöhnlich,
dass die Lehrzeit Unstudierter 3 Jahre
die Lehrzeit Studierter 6 und mehr Jahre
beträgt. Übrigens war ich letzthin in einer
Ausstellung von Lehrlingsarbeiten, wo aus
allen Handwerken nach 1 bis 2 jähriger
Lehrzeit schon erstaunliche Leistungen
(allerdings Unstudierter) zu sehen waren.
Dass Ihre Kousine nicht in Berlin
bleibt, ist merkwürdig; es bedeutet doch etwas
als halbwegs freier Mensch Berlin zu ver-
kosten. Es spricht sehr für die Kunst Ihrer
Kousine oder sehr gegen sie, dass sie so
leicht Berlin verlässt. Das andere aber, dass
sie nicht über die Tatra fährt und nicht


mit mir sprechen will, das ist nicht merk-
würdig und wundert mich nicht.
Wenn Sie "Jawne und Jerusalem" von
Bergmann nicht haben, werde ich es Ihnen
schicken.
Wie leben Sie jetzt? Was arbeiten
Sie? Bei meinem Kousin war ich noch
nicht wieder. Ich fange auch an zu den
Leuten zu gehören, die keine Zeit haben. Der
Tag ist genau eingeteilt zwischen Liegen,
Spazierengehn unddgl., nicht einmal zum
Lesen habe ich Zeit und Kraft. Nach paar fieber-
freien Tagen jetzt wieder Fieber. Der Arzt
hat mir einen Tee verschrieben, der, wenn
ich den Arzt richtig verstanden habe, kiesel-
säurehaltig ist, und Kieselsäure soll, wie
er irgendwo (hoffentlich in keiner humori-
stischen Zeitschrift) gelesen hat, die Vernarbung
befördern soll. Vielleicht versuchen Sie ihn
auch. Ich schreibe Ihnen das Recept ab, wenn
ich hinauf in meine Wohnung komme, ich
schreibe jetzt in der Wohnung meiner Schwester,
mein Zimmer, die kalte Höhle, ist ungeheizt.
Herzlichste Grüsse, auch
Glauber und Steinberg     Ihr
K
Schreiben Sie mir von Ilonka
und Frau Galgon.
Einen Brief und das Lehrbuch müssen Sie von mir bekom-
men haben.

Der Tee:
Herba equiseti
  "   Geopsidis
  "   Poly goni
        2 mal täglich

Original: Inlibris Verlag
Quelle Text: Briefe 1902 - 1924, S. 351; Kafkas letzter Freund, S. 30 - 31
Quelle Anmerkungen: Kafkas letzter Freund, S. 31 - 32

Mit Abweichungen bzw. unvollständig (5 Zeilen fehlen) abgedruckt in Br 364f

1 J [...] merkwürdig die Geschichte [...] wie von Pallenberg gespielt. n.e. Den aus Wien stammenden Schauspieler Max Pallenberg (1877-1934) hatte Kafka schon mehrere Male auf der Bühne gesehen, zuletzt wohl am 30. Oktober 1921 in Paul Schirmers Komödie "Der Herr Minister" im Neuen deutschen Theater. Vgl. WKC 180.
2] seit dem ich Sie nur ein wenig kenne: in Br: seitdem ich Sie nur ein wenig kenne
3] 1/10 und 1/9 Berufe d h. Berufe ohne Ernst sind abscheulich ob sie physisch oder geistig sind und werden, wenn sie menscherfassend sind, herrlich, ob physisch und geistig. in Br: Halb-und-Halb-Berufe, d.h. Berufe ohne Ernst sind abscheulich, ob sie physisch oder geistig sind, und werden, wenn sie menscherfassend sind, herrlich, ob physisch oder geistig
4] dass sie erst erst zu Staub zerrieben werden müssen: in Br ohne das zweite erst
5] Prager, der nach paar Jahren: in Br: Prager, der nach ein paarJahren; n. e.
6J Schlossereilehrling. in Br: Schlosserlehrling
7] dass die Lehrzeit [...] 3 Jahre die Lehrzeit Studierter 6 und mehr Jahre: in Br: dass die Lehrzeit [...] drei Jahre, die Lehrzeit Studierter sechs und mehr Jahre
8] 1 bis 2jähriger Lehrzeit. in Br: ein- bis zweijähriger Lehrzeit
9] Dass Ihre Kousine nicht in Berlin bleibt: in Br: Daß Ihre Cousine nicht in BerLin bleibt; vgl. Nr. 3, Anmerkung 8
10] es bedeutet doch etwas als halbwegs freier Mensch: in Br: es bedeutet doch etwas, als halbwegs freier Mensch
11J wenn Sie Jawne und Jerusalem von Bergmann nicht haben: Die Sammlung von Aufsätzen des Philosophen und Zionisten Hugo Bergmann (später Schmuel Hugo, 1883-1975) - Kafkas lebenslanger Freund und schon Klassenkollege in der Schule am Fleischmarkt (1889-1893) und am Altstädter Gymnasium (1893-1901) - war 1919 im Jüdischen Verlag, Berlin erschienen. Bergmann selbst war Mai 1920 nach Palästina ausgewandert und dort als Direktor der Hebräischen Nationalbibliothek in Jerusalem tätig; während eines Besuches in Prag trifft Kafka im April/Mai 1923 mehr- mals mit ihm zusammen "und faßt den Plan, ebenfalls nach Palästina auszuwandern und zunächst bei Bergmann und seiner Familie in Jerusalem zu wohnen" (WKC 193; zu Bergmann vgI. auch Nr.26).
12] Bei meinem Kousin: in Br: Bei meinem Cousin - Zu Robert Kafka vgl. Nr. 1 , Anmerkung 4.
13] Der Tag ist genau eingeteilt zwischen Liegen, Spazierengehn unddgL: in Br: Der Tag ist genau eingeteilt zwischen Liegen, Spazierengehn und dgl. - Kafka hatte sich am 17. Oktober auf Veranlassung seiner Eltern untersuchen lassen; am 29. wurde ihm sei­ tens der AUVA ein dreimonatiger Genesungsurlaub bewilligt, der Ende Jänner 1922 schließlich noch einmal um weitere drei Monate bis Ende April verlängert wurde (vgl. WKC 179ff.; vgl. auch Nr.2, Anmerkung 1).
14] Nach paar fieberfreien Tagen: in Br: Nach ein paar fieberfreien Tagen
15] hat mir einen Tee verschrieben: in Br: hat mir nur einen Tee verschrieben
16] kieselsäurehaltig ist, und Kieselsäure soll: in Br: kieselsäurehaltig ist und Kieselsäure soll
17] die Vernarbung befördern soll: in Br: die Vernarbung befördern
18] Herzlichste Grüsse: in Br: Herzliche Grüße
19] Einen Brief und das Jahrbuch müssen Sie von mir bekommen haben: am oberen Rand über der Zeile "mit mir sprechen will, das ist nicht merk-" eingefügt und durch einen über die Blattbreite gehenden Querstrich von dieser getrennt
20] Der Tee [...] 2 mal täglich: fehlt in Br; in Bleistift: über die Verso-Seite von Bl. 2 quergeschrieben
21] X 1 Wortteil unlesbar gestrichen
22] Glauber und Steinberg. zu Dr. Glauber vgl. Nr.2, Anmerkung 14, sowie Nr.7, 8, 11 und 27, Anmerkung 2; Steinberg. n.e.

Letzte Änderung: 27.3.2011werner.haas@univie.ac.at