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An Robert Klopstock
Lieber Robert, heute nur Frl. Irenens Sache. Ich war also bei Pick, er
wußte nichts..., aber Paul Adler war dort, sehr bereitwillig, hat
mir dann in einer Gesellschaft, in die ich allerdings gehn mußte,
die beiliegenden zwei Briefe geschrieben; er ist ein ausgezeichneter Mensch;
dass er es auch in dieser Hinsicht ist, hätte ich nicht erwartet.
Der eine Brief ist an Prof. Dreher gerichtet, er ist ein Kunst-Akademieprofessor,
etwa 45 Jahre alt, sehr freundlich, ebenso wie seine Frau, er ist ein Freund
des in beiden Briefen erwähnten Gross, welcher Direktor der Kunstgewerbeakademie
ist. Sollte die Adresse Dresden A Waisenhausgasse 7 nicht genau stimmen,
ist sie jedenfalls in der Kunstakademie genau zu erfragen. Er könnte
zwar auch in der Kunstakademie selbst aufgesucht werden, zuhause ist es
aber vorteilhafter, weil Frl. Irene darin gleich mit der Frau bekannt wird
und unter weiblichen Schutz kommt. Georg von Mendelssohn kenne ich flüchtig,
er erinnert sich meiner gewiß nicht, ihn aber kann man nicht vergessen,
ein riesiger langer nordländisch aussehender Mensch mit einem kleinen,
entsetzlich energischen Vogelgesicht, man erschrickt vor seinem Wesen,
seiner kurz abgehackten Rede, seiner scheinbar für jeden möglichen
Fall ablehnenden Haltung, aber man maß nicht erschrecken, er meint
es nicht böse, zumindest nicht im Durchschnitt seines Verhaltens und
ist unbedingt zuverlässig. Er steht im Mittelpunkt des deutschen Kunstgewerbes,
hat in Hellerau eine Kunstschmiede und gehört wohl in jeder Hinsicht
zu den "Wissenden" des Kunstgewerbes.
Da ich diese zwei Briefe bekommen hatte (in denen natürlich abgesehn
von ihrer Liebenswürdigkeit aller möglicher Unsinn steht, über
den des guten Zwecks wegen Frl. Irene wohl hinwegsehn wird, wie auch ich
es tue) halte ich es für das Richtigste, sich jetzt nur auf Dresden
zu beschränken. Frl. Irene wird dort, je nachdem sich ihr die Dinge
zeigen, Gelegenheit haben, in einer kleineren persönlicher geleiteten
Schule oder in der Kunstgewerbeschule selbst zu lernen, außerdem
ist es eine schöne, angenehme und vor allem verhältnismäßig
sehr gesunde Stadt (viel gesünder, gartenstadtmäßiger als
München) und doch auch am nächsten zur Heimat.
Ich habe deshalb das Gesuch nur dorthin geschickt; kommt keine Antwort
oder eine ablehnende macht es nichts, die Empfehlungsbriefe werden es wieder
gutmachen und kommt eine günstige Antwort, kann man sich den neuen
Freunden in Dresden schon mit etwas ausweisen. Das Geld und die Marken
der andern Gesuche schicke ich deshalb in der Beilage vorläufig zurück.
Dem Gesuch nach Dresden habe ich 20 Kronen beigelegt, 10 Kronen schien
mir zu wenig.
Ich schreibe Ihnen, weil mir Hunsdorf postalisch irgendwie unzuverlässig
vorkommt, vielleicht ist das Frl. auch schon in Matlar.
Herzliche Grüße dem Frl. und Ihnen
K
Damit Frl. Irene den Briefschreiber ein wenig kennen lernt, lege ich eine
Kritik von ihm bei. Ist denn Hunsdorf Post? Das Telegramm soll ja hinkommen.
[auf separatem Bogen:]
Und jetzt noch ein paar Worte im Vertrauen zu Ihnen: Solange es sich nur
um das hoffnungslose Experiment einer Gesuchseinsendung handelte, hat es
mich interessiert, aber doch nur von der Ferne, so wie es z. B. bei Jules
Verne interessiert, wenn man die leichtsinnigen Kinder auf dem Schiff spielen
sieht; das Schiff wird sich doch nicht zufällig losreißen, sagt
man sich, und etwa ins Weltmeer hinaustreiben, aber die entfernteste Möglichkeit
dessen besteht doch und das ist eben interessant. Jetzt aber da es ernst
wird und ich selbst mit hinein verflochten bin, ist es nicht mehr interessant.
Ihr Urteil in dem Brief halte ich nicht für richtig, wohl aber jenes
des Münchner Rektors. Aber auch das ist nicht das Entscheidende, selbst
wenn gar kein lebendiges Talent hier aufzufinden wäre - und das scheint,
nicht so sehr für meine unwissenden Augen als für meine Menschenkenntnis
tatsächlich der Fall zu sein - wäre es an sich nicht so schlimm,
die Zucht der Schule, der Einfluß des Lehrers, die Verzweiflung des
eigenen Herzens könnten doch etwas Brauchbares erreichen, das alles
aber nur in früher Jugend, im Alter Frl. Irenes nicht mehr. Gewiß,
sie lebte ihr Leben lang dort in dem Zipser Urwald (so erscheint es ja
von der Geistesbeweglichkeit der Dresdner Herren aus gesehn) und diese
zarte Ungeschicklichkeit, Scheu, menschliche, künstlerische, allseitigste
Unerfahrenheit hat einen gewissen Materialwert, die radikale Änderung
der Lebensweise wird stark wirken, eine gewisse immerhin bestehende Robustheit
wird diese Wirkung ohne Schaden zu ertragen wissen, aber leider, wegen
des Alters, auch ohne Nutzen. Und welche Verantwortung trägt man,
wenn man sie so hinaustreibt. Gerade jetzt in den Jahren, in denen sie
sich noch durch eine Heirat retten könnte, wird sie im Ausland sein,
erkennen, dass diese Hoffnung auch vergeblich war, beschämt zurückkommen
und erst jetzt sehn, dass wirklich alles verloren ist. Ich bin unglücklich
bei der Vorstellung, dass sie auf der Reise nach Dresden hier durchkommen
wird, ich sie sehen werde (zum Zeigen der Stadt bin ich übrigens zu
schwach) und so werde tun müssen, als hätte ich Zuversicht. Und
wenn ich mir vorstelle, wie der Kunstakademieprofessor, der gute Sachse,
sagt: "Nun also liebes Fräulein, zeigen Sie uns Ihre Arbeiten"
und die Frau Kunstakademieprofessor steht auch dabei, möchte ich mich
schon jetzt, trotzdem ich auch dann örtlich weit von der Szene entfernt
sein werde, vor den Schrecken der Welt in ein Erdloch verkriechen. Die
Empfehlungsbriefe sind schön, noch schöner wäre es, sie
zu zerreißen.
Ich war gestern noch in einer Gesellschaft, die zusammengekommen war, um
eine neue junge Rezitatorin zu hören (deren künstlerische Zukunft
- sie lernt bei Reinhardt - mir übrigens nicht viel weniger verzweifelt
vorkommt als die Frl. Irenens) -, dann war ich aus Schwäche noch im
Kaffeehaus, kam nervenzitternd nachhause, ich ertrage jetzt nicht einmal
die Blicke der Menschen mehr (nicht aus Menschenfeindschaft, aber die Blicke
der Menschen, ihre Anwesenheit, ihr Dasitzen und Herüberschauen, das
alles ist mir zu stark) hustete mich stundenlang* in einen Morgenschlaf
hinüber und wäre am liebsten aus dem Leben hinausgeschwommen,
was mir wegen der scheinbaren Kürze der Wegstrecke leicht schien.
Zu Münzer gehe ich erst in ein, zwei Tagen.
Warum geht das Fräulein nicht lieber in eine Gartenbauschule? Übrigens,
vielleicht gäbe es etwas derartiges auch in Dresden.
Eben sehe ich, dass Frl. Irene nicht 28 Jahre alt ist, wie ich dachte,
sondern 26, diese Kleinigkeit gibt doch vielleicht ein wenig Hoffnung.
* nicht telegraphieren! Ich habe nicht stundenlang gehustet, sondern stundenlang
nicht geschlafen und dabei auch ein wenig gehustet.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at