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An Elli Hermann

[Herbst 1921]
 

. . . Ich habe für mich (unter vielen andern) einen großen Zeugen, den ich hier aber nur zitiere, eben weil er groß ist, und dann, weil ich es gestern gerade gelesen habe, nicht weil ich die gleiche Meinung zu haben wagte. In der Beschreibung zu Gullivers Reise in Liliput (dessen Einrichtungen sehr gelobt werden) sagt Swift: "Die Begriffe von den gegenseitigen Pflichten der Eltern und Kinder sind gänzlich von den unsrigen verschieden. Da nämlich die Verbindung der Männer und Weiber, wie bei allen Tiergeschlechtern, auf Naturgesetzen beruht, behaupten sie durchaus, dass Männer und Frauen nur deshalb sich vereinigen; die Zärtlichkeit gegen die Jungen folge aus demselben Grundsatz; deshalb wollen sie nicht zugestehn, ein Kind sei für sein Dasein den Eltern verpflichtet, welches ohnedies wegen des menschlichen Elends keine Wohltat sei; auch bezweckten die Eltern keine Wohltat, sondern dächten an ganz andere Dinge bei ihren verliebten Zusammenkünften. Wegen dieser und anderer Schlußfolgen sind sie der Meinung, Eltern dürfe man am wenigsten unter allen Menschen die Erziehung der Kinder anvertrauen." Er meint damit offenbar, ganz entsprechend Deiner Unterscheidung zwischen "Mensch" und "Sohn", dass das Kind, wenn es Mensch werden soll, möglichst bald, wie er sich ausdrückt, der Tierheit, dem bloß tierischen Zusammenhang entzogen werden muß.

Du gibst selbst zu, dass bei Deinem Zögern Eigennutz mitwirkt. Ist aber dieser Eigennutz nicht sogar als Eigennutz etwas verkehrt? Wenn Du z. B. die Wintersachen über den Sommer nicht zum Kürschner geben willst, weil Deinem Gefühl nach die Sachen, wenn Du sie im Herbst zurückbekommst, Dir innerlich fremd wären, und wenn Du daher die Sachen selbst aufbewahrst, so werden sie Dir allerdings im Herbst vollständig, innerlich und äußerlich gehören, werden aber von Motten zerfressen sein. (Das ist keine Bosheit, wirklich nicht, nur ein Beispiel, ein naheliegendes.) . . .

So sehe ich also Deine Bedenken, vollständig könnte ich überhaupt nur ein Gegenargument anerkennen, das Du aber nicht erwähnst. Vielleicht denkst Du es aber. Es ist dieses: Wie kann mein Rat hinsichtlich der Erziehung von Kindern anderer etwas wert sein, wenn ich nicht einmal imstande war, mir einen Rat dafür zu geben, wie man eigene Kinder bekommt. - Dieses Argument ist unwiderleglich und trifft mich vollständig, aber so ausgezeichnet es auch ist, so glaube ich doch, dass es mehr mich trifft, als diesen meinen Rat. Laß es meinen Rat nicht entgelten, dass er von mir kommt.




. . .: Die Originalbriefe an die Schwester sind anscheinend während der deutschen Besetzung verlorengegangen, daher kann ich die Lücken in den seinerzeit genommenen Abschriften heute nicht mehr ausfüllen


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at