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An Elli Hermann

[Herbst 1921]
 

Liebe Elli, eigentlich hätte ich einen weniger ablehnenden Brief erwartet, wenigstens einen fröhlicher entschiedenen. Siehst Du denn das Glück nicht ein? Oder kennst Du eine bessere Erziehungsmöglichkeit? Es gibt radikalere, persönlicher geführte, vielleicht bedeutendere Schulen z. B. Wickersdorf; es gibt glattere, fremdartigere, von hier aus nicht zu beurteilende Schulen im weiteren Ausland, es gibt blutsnähere und vielleicht wichtigere Schulen in Palästina, aber in der Nähe und weniger riskant wohl keine außer Hellerau. Zu jung, weil ihm ein paar Monate zum zehnten Jahr fehlen? Es werden Siebenjährige aufgenommen, es gibt ja drei Vorschuljahrgänge. Man kann zu jung sein für das Erwerbsleben, für das Heiraten, für das Sterben, aber zu jung für eine zarte, zwanglose, alles Gute entfaltende Erziehung? Zehn Jahre sind wenig, aber unter Umständen ein hohes Alter, zehn Jahre ohne Körperübung, ohne Körperpflege, in Wohlleben, vor allem in Wohlleben ohne Übung der Augen und und Ohren und Hände (außer beim Ordnen des Liftgeldes), im Käfig der Erwachsenen, die sich doch im Grunde, es gebt nicht anders im gewöhnlichen Leben, an den Kindern nur austoben - solche zehn Jahre sind nicht wenig. Freilich bei Felix können sie nicht so schlimm wirken, er ist kräftig, ruhig, klug, fröhlich, aber diese zehn Jahre sind überdies in Prag verbracht, in dem von Kindern nicht abzuhaltenden besondern Geist, der gerade in Prager wohlhabenden Juden wirkt, ich meine natürlich nicht einzelne Menschen, sondern diesen fast mit Händen zu greifenden allgemeinen Geist, der sich in jedem je nach Anlagen verschieden äußert, der in Dir ist so wie in mir, diesen kleinen, schmutzigen, lauwarmen, blinzelnden Geist. Vor dein das eigene Kind retten können, was für ein Glück!

F.




Elli Hermann: Kafkas älteste Schwester. Da ihr Sohn Felix am 8. Dezember 1911 geboren wurde, kann der Brief ungefähr in den Herbst 1921 datiert werden.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at