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An Oskar Baum
Lieber Oskar, Du hast mich also nicht vergessen. Fast möchte ich Dir
Vorwürfe machen, dass ich Dir nicht geschrieben habe. Aber Schreiben
ist hier in dieser großen Untätigkeit für mich fast eine
Tat, fast ein neues Geborenwerden, ein neues Herumarbeiten in der Welt,
dem doch unwiderruflich wieder der Liegestuhl folgen muß und - man
schreckt zurück. Womit ich aber nicht den Eindruck erwecken will,
dass ich mir darin Recht gebe, nein, gar nicht.
Von Dir habe ich fast gar nichts gehört, nur von Deinem Weininger-Vortrag
gelesen (gibt es noch immer kein freies Manuskript, keine Korrektur dieses
Aufsatzes?), Gerüchte über Kritikerstellen, sonst nichts. Ich
erzähle Max immer nur mit vollem Mund von mir, gebe ihm fast keine
Gelegenheit, von anderem zu schreiben. Und was mag alles in diesen Jahren
der Zwischenzeit geschehen sein, einige sizilianische Reisen könntest
Du gemacht haben, und wie viel gearbeitet, und Leo könnte schon fast
an der Universität sein. Im Liegestuhl ist es schwer, die Zeit zu
bestimmen, man glaubt, dass es vier Monate gewesen sind, aber mit
dem Verstand erkennt man gut, dass viele Jahre vergangen sind. Man
wird zum Trost auch entsprechend alt. Jetzt ist z. B. eine kleine Budapesterin
weggefahren (Aranka hat sie geheißen; jede dritte heißt so,
und jede zweite Ilonka, schöne Namen sind es, auch Clarika heißt
manche, und alle werden nur mit dem Vornamen angesprochen: "Wie geht
es, Aranka?"). Diese Budapesterin ist also weggefahren, sehr hübsch
war sie nicht, ein wenig schief aufgesetzte Wangen, nicht fehlerlos eingefußte
Augen, dicke Nase, aber jung war sie, eine solche Jugend!, und alles hat
diesem schönen Körper gepaßt, und fröhlich und herzlich
war sie, alle waren in sie verliebt, ich habe mich absichtlich von ihr
zurückgehalten, mich ihr nicht vorgestellt, sie war etwa drei Monate
hier, ich habe kein direktes Wort mit ihr gesprochen, was in einem so kleinen
Kreis nicht ganz einfach ist. Und jetzt am letzten Tag beim Frühstück
(Mittagmahl und Nachtmahl esse ich allein in meinem Zimmer) kommt sie zu
mir und fängt in ihrem umständlichen Ungarisch-Deutsch eine längere
Rede an: "Ich erlaube nur, Herr Doktor, mich von Ihnen zu verabschieden"
u. s. w., nun, wie man eben errötend und unsicher zu einem alten Würdenträger
spricht. Und die Knie haben mir ja auch wirklich dabei geschlottert. Das
Buch freue ich mich wieder zu lesen, es ist aus Gründen, die in einem
gewissen Sinn unkontrollierbar sind, eines meiner Lieblinge unter Deinen
Büchern, es ist so gut darin zu leben, warm, wie in der Ecke eines
Zimmers, wo man vergessen ist und um so stärker alles miterleben kann,
was geschieht. Leider mußte ich es verborgen, aber morgen bekomme
ich es wieder. Meine Tischnachbarin, diesmal Ilonka, hat es gesehn und
mich so darum gebeten, dass ich es ihr borgen mußte, um so lieber,
als sie offenbar in ihrem ganzen Leben noch kein gutes Buch gelesen hat.
Ihr Hübsches ist eine zarte, fast durchscheinende Haut, da wollte
ich sehn, wie sie aussehn wird, wenn sie von der Freude über Dein
Buch illuminiert ist.
Herzlichste Grüße Dir, Frau, Kind und Schwester.
Dein Franz
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at