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An Oskar Baum

[Matliary, Frühjahr 1921]
 

Lieber Oskar, Du hast mich also nicht vergessen. Fast möchte ich Dir Vorwürfe machen, dass ich Dir nicht geschrieben habe. Aber Schreiben ist hier in dieser großen Untätigkeit für mich fast eine Tat, fast ein neues Geborenwerden, ein neues Herumarbeiten in der Welt, dem doch unwiderruflich wieder der Liegestuhl folgen muß und - man schreckt zurück. Womit ich aber nicht den Eindruck erwecken will, dass ich mir darin Recht gebe, nein, gar nicht.

Von Dir habe ich fast gar nichts gehört, nur von Deinem Weininger-Vortrag gelesen (gibt es noch immer kein freies Manuskript, keine Korrektur dieses Aufsatzes?), Gerüchte über Kritikerstellen, sonst nichts. Ich erzähle Max immer nur mit vollem Mund von mir, gebe ihm fast keine Gelegenheit, von anderem zu schreiben. Und was mag alles in diesen Jahren der Zwischenzeit geschehen sein, einige sizilianische Reisen könntest Du gemacht haben, und wie viel gearbeitet, und Leo könnte schon fast an der Universität sein. Im Liegestuhl ist es schwer, die Zeit zu bestimmen, man glaubt, dass es vier Monate gewesen sind, aber mit dem Verstand erkennt man gut, dass viele Jahre vergangen sind. Man wird zum Trost auch entsprechend alt. Jetzt ist z. B. eine kleine Budapesterin weggefahren (Aranka hat sie geheißen; jede dritte heißt so, und jede zweite Ilonka, schöne Namen sind es, auch Clarika heißt manche, und alle werden nur mit dem Vornamen angesprochen: "Wie geht es, Aranka?"). Diese Budapesterin ist also weggefahren, sehr hübsch war sie nicht, ein wenig schief aufgesetzte Wangen, nicht fehlerlos eingefußte Augen, dicke Nase, aber jung war sie, eine solche Jugend!, und alles hat diesem schönen Körper gepaßt, und fröhlich und herzlich war sie, alle waren in sie verliebt, ich habe mich absichtlich von ihr zurückgehalten, mich ihr nicht vorgestellt, sie war etwa drei Monate hier, ich habe kein direktes Wort mit ihr gesprochen, was in einem so kleinen Kreis nicht ganz einfach ist. Und jetzt am letzten Tag beim Frühstück (Mittagmahl und Nachtmahl esse ich allein in meinem Zimmer) kommt sie zu mir und fängt in ihrem umständlichen Ungarisch-Deutsch eine längere Rede an: "Ich erlaube nur, Herr Doktor, mich von Ihnen zu verabschieden" u. s. w., nun, wie man eben errötend und unsicher zu einem alten Würdenträger spricht. Und die Knie haben mir ja auch wirklich dabei geschlottert. Das Buch freue ich mich wieder zu lesen, es ist aus Gründen, die in einem gewissen Sinn unkontrollierbar sind, eines meiner Lieblinge unter Deinen Büchern, es ist so gut darin zu leben, warm, wie in der Ecke eines Zimmers, wo man vergessen ist und um so stärker alles miterleben kann, was geschieht. Leider mußte ich es verborgen, aber morgen bekomme ich es wieder. Meine Tischnachbarin, diesmal Ilonka, hat es gesehn und mich so darum gebeten, dass ich es ihr borgen mußte, um so lieber, als sie offenbar in ihrem ganzen Leben noch kein gutes Buch gelesen hat. Ihr Hübsches ist eine zarte, fast durchscheinende Haut, da wollte ich sehn, wie sie aussehn wird, wenn sie von der Freude über Dein Buch illuminiert ist.

Herzlichste Grüße Dir, Frau, Kind und Schwester.

Dein Franz


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at