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An M. E.
Liebe Minze, müde vom Tagwerk (es ähnelt der Gewächshausarbeit),
das letzte Glas Milch ist noch nicht getrunken, die Temperatur zum letzten
Mal noch nicht gemessen, das Thermometer steckt im Mund, liege ich auf
dem Kanapee. Minze, wo laufen Sie in der weiten Welt herum? Ich glaube,
wenn Sie ein Mann wären, wären Sie Robinson geworden oder Sindbad
der Seefahrer und die Kinder würden Bücher über Sie lesen.
Wie kamen Sie von Ahlem fort? Im Guten oder im Bösen? Und die Gärtnerschule
dort besteht nicht mehr? Und Ihre jetzige Firma nahm Sie als Lehrling ohne
Vorbildung an? Auf 2 Jahre (worin besteht die 2jährige Verpflichtung?)
gegen Kost und Wohnung?
Das sind noch einige Unklarheiten, aber sonst scheint das, was Sie gemacht
haben, ausgezeichnet, tapfer und stolz zu sein. Ihr Brief besteht aus 2
Briefen, einem langen fröhlichen und einem kurzen traurigen, schon
das zeigt, dass Sie auf eigenen Füßen gehn, denn der allgemeine
Lauf der Welt, wie er sich etwa auf den Teplitzer Gassen abrollt, ist weder
fröhlich noch traurig, sondern, ob er nun fröhlich oder traurig
aussieht, immer nur eine trübe verzweifelte Mischung.
Ihr Brief kam gerade am letzten Tag eines verhältnismäßig
guten Zeitabschnittes, ich las ihn noch auf dem Balkon, der ganz ähnlich
ist dem in Schelesen, nur dass er ganz nahe den Schneebergen ist und
dafür ein wenig ärmlicher und baufälliger, ich las den Brief
also dort, glücklich über Ihr Glück, nicht ganz so unglücklich
über Ihr Traurigsein, machte, die Füße allerdings im Fußsack,
Ihre Fußwanderung auf den Brocken mit (einmal vor Jahren war ich
wochenlang am Fuß des Brocken, im Sanatorium Jungborn,
vielleicht sind Sie daran vorübergekommen, es ist nicht weit von Harzburg,
wochenlang war ich dort und bin, trotzdem ich im Ganzen gesund war, doch
nicht auf den Brocken gekommen, ich weiß nicht warum. Einer von dort
machte einmal in einer warmen Nacht die Besteigung ganz nackt, nur den
Mantel hatte er auf den Rücken geschnallt. Ich aber schlief lieber
in meiner Lufthütte den damals noch süßen Schlaf und die
Wanderin Minze war noch kaum auf der Welt oder doch, sie war schon paar
Jahre da und ein mehr minder braves Teplitzer Schulmädchen).
Ja das war also der letzte gute Tag, aber dann wurde es schlimmer, allerlei,
zuletzt Verkühlung und Bettlägerigkeit, drei Wochen eines wenig
unterbrochenen Sturmwinds, jetzt ist es schon besser, im Himmel und auf
Erden.
Liebe Minze, wieder eine Unterbrechung viele Tage lang, mir war nicht ganz
gut, aber auch durchaus nicht schlecht, nur ein wenig zu müde, um
die Hand zum Schreiben zu heben. Vielleicht war der Storm daran schuld,
immer wieder Sturm, in den Wäldern rauschte es wie wenn es die Ostsee
wäre. Jetzt aber ist es paar Tage lang schön , starke Sonne bei
Tag und Abend solcher Frost, dass, wenn man ohne Ohrenschutz paar
Minuten draußen herumgeht, die Ohren plötzlich so zu brennen
anfangen, dass man nicht mehr das Haus erreichen zu können glaubt,
auch wenn man nur 200 Schritte davon entfernt ist. Mag es so bleiben.
Und Sie, Minze, Sie arbeiten so viel? Werden Sie es aushalten? Im pomologischen
Institut in Prag bin ich mit vielen Gärtnern beisammen gewesen, die
von ihren Erfahrungen erzählten. Alle waren darin einig, in Handelsgärtnereien
sei die größte Arbeit. Dann war ich allerdings in der größten
Handelsgärtnerei von Böhmen (Maschek, Turnau) und dort war es
nicht gar so schlimm, es waren hauptsächlich Baumschulen und außerhalb
der Expeditionszeit im Frühjahr und Herbst führten die Leute
sogar ein sehr gutes Leben. Allerdings dieser Betrieb war schon ein wenig
im Niedergang und weit entfernt von deutscher Präcisionswirtschaft.
Bücher? Haben Sie zum Lesen von Nicht-Gartenbaubüchern Zeit?
Ich lasse Ihnen ein kleines Buch schicken, dort haben
Sie das Leben dieser kleinen Ostseeorte im vorigen Jahrhundert wunderbar.
Und ich schreibe Ihnen wieder bald. Mut, Minne, Mut!
Ihr Kafka
[seitliche Randbemerkung:] Was bedeutet das: "wenn die Ärzte
recht behalten".
Sanatorium Jungborn : Siehe "Tagebücher",
Seite 651 ff.
Buch: Theodor Fontane, Meine Kinderjahre.
Letzte Änderung: 18.3.2019 werner.haas@univie.ac.at