Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

Brief an Max Brod

[Matliary, Juni 1921]


Liebster Max, den Fortsetzungszettel habe ich vor ein paar Tagen weggelegt, plötzlich fiel mir nämlich ein, ob Du nicht mir böse bist; damals als ich den Brief schrieb, hatte ich nicht im entferntesten daran gedacht, auch war es ja in der Theorie eine viel tiefere Verbeugung vor Deiner Frau, als ich sie im Leben wagen würde; dann aber fiel mir die Möglichkeit ein, nun ist es also glücklicherweise nicht so. Allerdings, mein Beispiel war falsch, M. haßt ja fast alle Jüdinnen, und Literatur mag auch mitgewirkt haben, aber auch Dein Gegenbeispiel ist schwach, diese "christlichen" Freundschaften schöpfen kaum den ethnographischen Reiz aus, wie sollten sie tiefer gehn, vor allem aber habe ich ja nicht so sehr das Negativum, das Fehlen der Freundschaften, betonen wollen; die Theorie also bleibt, bleibt so fest wie der Pfahl in meinem Fleisch.

    So weit schon das Buch? Und so glücklich? Und ich weiß gar nichts davon, so fern, so fern. Und auch an der Ostsee werde ich nichts davon erfahren. Jetzt darf ich es offen sagen, ich hätte mir nichts besseres gewußt, als mit Dir zu fahren. Ganz verschweigen konnte ich es nicht, offen sagen auch nicht, denn eine Art Krankentransport wäre es immerhin gewesen. Wenn ich mich z. B. in dieser Hinsicht an Deine Stelle zu versetzen suche, sehe ich, dass mich die Lungenkrankheit, wenn ich gesund wäre, beim Nächsten sehr stören würde, nicht nur wegen der immerhin bestehenden Ansteckungsmöglichkeit, sondern vor allem, weil dieses fortwährende Kranksein schmutzig ist, schmutzig dieser Widerspruch zwischen dem Aussehn des Gesichtes und der Lunge, schmutzig alles. Dem Spucken anderer kann ich nur mit Ekel zusehn und habe selbst doch auch kein Spuckfläschchen, wie ich es haben sollte. Nun aber, alle diese Bedenken entfallen hier, der Arzt verbietet mir unbedingt an ein nördliches Meer zu fahren, ein Interesse, mich während des Sommers hier zu halten hat er nicht, im Gegenteil, er erlaubt mir auch wegzufahren, in Wälder, wohin ich will, aber an das Meer nicht; auch an das Meer darf ich übrigens fahren und soll es sogar, aber nach Nervi, im Winter. So ist es. Und ich habe mich schon sehr gefreut, auf Dich, die Fahrt, die Welt, das Meeresrauschen. Auch die Bäche um die Wiese rauschen, auch die Bäume, und es beruhigt auch, aber es ist nicht verläßlich, kommen Soldaten - und jetzt sind sie immerfort dort und machen aus der Waldwiese ein Wirtshaus - dann lärmt Bach und Wald mit ihnen, es ist ein Geist, ein Teufel in ihnen allen. Ich versuche von hier fortzukommen, wie Du rätst, aber gibt es Ruhemöglichkeit irgendwo anders als im Herzen? Gestern war ich z. B. in Taraika, einem Wirtshaus in den Bergen, über 1300 m hoch, wild und schön, ich hatte große Protektion, man wollte alles mögliche für mich tun, trotzdem eine Überfülle von Gästen kommen wird, man wollte mir vegetarisch kochen, viel besser als hier, wollte mir das Essen aus dem hochgelegenen

__________


    Das sind schon alte Geschichten, es war dort mehr Lärm von Touristen und Zigeunermusik als hier, so bin ich also wieder hier geblieben, unbeweglich, wie wenn ich Wurzeln geschlagen hätte, was doch gewiß nicht geschehen ist. Vor allem freilich, ohne im allgemeinen viel daran zu denken, fürchte ich mich vor der Anstalt, so lange war ich noch nicht von ihr fort - außer Zürau, aber dort war es anders, dort war ich anders, auch hielt mich noch ein wenig der alte Oberinspektor - meine Schuld ihr gegenüber ist so ungeheuerlich, so unbezahlbar, dass sie sich nur noch weiter vergrößern kann, eine andere Veränderungsmöglichkeit gibt es für sie nicht. Nun, ich pflege Fragen dadurch zu lösen, dass ich mich von ihnen auffressen lasse, vielleicht tue ich es hier auch.

    Für die Ausschnitte habe ich Dir noch gar nicht gedankt, in allen ist Glück und Zuversicht und die von ihnen leicht geführte Hand. Um wie viel trüber sind Oskars Arbeiten, gewunden, oft mühselig, besonders in einem gewissen gesellschaftlichen Sinn mangelhaft, im Ganzen freilich kann er auch das, der unbeugsame Mensch. Felix vernachlässigt mich, die Selbstwehr läßt er mir seit einigen Nummern nicht mehr schicken und auch der hiesige Arzt, Dr. Leopold Strelinger, den ich ihm als neuen Abonnenten gemeldet habe, hat sie noch nicht bekommen.

    Vor längerer Zeit habe ich "Literatur" von Kraus gelesen, Du kennst es wohl? Nach dem damaligen Eindruck, der sich seither natürlich schon sehr abgeschwächt hat, schien es mir außerordentlich treffend, ins Herz treffend zu sein. In dieser kleinen Welt der deutsch jüdischen Literatur herrscht er wirklich oder vielmehr das von ihm vertretene Prinzip, dem er sich so bewunderungswürdig untergeordnet hat, dass er sich sogar mit dem Prinzip verwechselt und andere diese Verwechslung mitmachen läßt. Ich glaube, ich sondere ziemlich gut, das, was in dem Buch nur Witz ist, allerdings prachtvoller, dann was erbarmungswürdige Kläglichkeit ist, und schließlich was Wahrheit ist, zumindest so viel Wahrheit, als es meine schreibende Hand ist, auch so deutlich und beängstigend körperlich. Der Witz ist hauptsächlich das Mauscheln, so mauscheln wie Kraus kann niemand, trotzdem doch in dieser deutsch jüdischen Welt kaum jemand etwas anderes als mauscheln kann, das Mauscheln im weitesten Sinn genommen, in dem allein es genommen werden muß, nämlich als die laute oder stillschweigende oder auch selbstquälerische Anmaßung eines fremden Besitzes, den man nicht erworben, sondern durch einen (verhältnismäßig) flüchtigen Griff gestohlen hat und der fremder Besitz bleibt, auch wenn nicht der einzigste Sprachfehler nachgewiesen werden könnte, denn hier kann ja alles nachgewiesen werden durch den leisesten Anruf des Gewissens in einer reuigen Stunde. Ich sage damit nichts gegen das Mauscheln, das Mauscheln an sich ist sogar schön, es ist eine organische Verbindung von Papierdeutsch und Gebärdensprache (wie plastisch ist dieses: Worauf herauf hat er Talent? oder dieses den Oberarm ausrenkende und das Kinn hinaufreißende: Glauben Sie! oder dieses die Knie an einander zerreibende: "er schreibt. Über wem?") und ein Ergebnis zarten Sprachgefühls, welches erkannt hat, dass im Deutschen nur die Dialekte und außer ihnen nur das allerpersönlichste Hochdeutsch wirklich lebt, während das übrige, der sprachliche Mittelstand, nichts als Asche ist, die zu einem Scheinleben nur dadurch gebracht werden kann, dass überlebendige Judenhände sie durchwühlen. Das ist eine Tatsache, lustig oder schrecklich, wie man will; aber warum lockt es die Juden so unwiderstehlich dorthin? Die deutsche Literatur hat auch vor dem Freiwerden der Juden gelebt und in großer Herrlichkeit, vor allem war sie, soviel ich sehe, im Durchschnitt niemals etwa weniger mannigfaltig als heute, vielleicht hat sie sogar heute an Mannigfaltigkeit verloren. Und dass dies beides mit dem Judentum als solchem zusammenhängt, genauer mit dem Verhältnis der jungen Juden zu ihrem Judentum, mit der schrecklichen inneren Lage dieser Generationen, das hat doch besonders Kraus erkannt oder richtiger, an ihm gemessen ist es sichtbar geworden. Er ist etwas wie der Großvater in der Operette, von dem er sich nur dadurch unterscheidet, dass er statt bloß oi zu sagen, auch noch langweilige Gedichte macht. (Mit einem gewissen Recht übrigens, mit dem gleichen Recht, mit dem Schopenhauer in dem fortwährenden von ihm erkannten Höllensturz leidlich fröhlich lebte.)

    Besser als die Psychoanalyse gefällt mir in diesem Fall die Erkenntnis, dass dieser Vaterkomplex, von dem sich mancher geistig nährt, nicht den unschuldigen Vater, sondern das Judentum des Vaters betrifft. Weg vom Judentum, meist mit unklarer Zustimmung der Väter (diese Unklarheit war das Empörende), wollten die meisten, die deutsch zu schreiben anfingen, sie wollten es, aber mit den Hinterbeinchen klebten sie noch am Judentum des Vaters und mit den Vorderbeinchen fanden sie keinen neuen Boden. Die Verzweiflung darüber war ihre Inspiration.

    Eine Inspiration, ehrenwert wie irgendeine andere, aber bei näherem Zusehn doch mit einigen traurigen Besonderheiten. Zunächst konnte das, worin sich ihre Verzweiflung entlud, nicht deutsche Literatur sein, die es äußerlich zu sein schien. Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten, (die ich nur zufällig sprachliche Unmöglichkeiten nenne, es ist das Einfachste, sie so zu nennen, sie könnten aber auch ganz anders genannt werden): der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zuschreiben, fast könnte man eine vierte Unmöglichkeit hinzufügen, die Unmöglichkeit zu schreiben (denn die Verzweiflung war ja nicht etwas durch Schreiben zu Beruhigendes, war ein Feind des Lebens und des Schreibens, das Schreiben war hier nur ein Provisorium, wie für einen, der sein Testament schreibt, knapp bevor er sich erhängt, - ein Provisorium, das ja recht gut ein Leben lang dauern kann), also war es eine von allen Seiten unmögliche Literatur, eine Zigeunerliteratur, die das deutsche Kind aus der Wiege gestohlen und in großer Eile irgendwie zugerichtet hatte, weil doch irgendjemand auf dem Seil tanzen muß. (Aber es war ja nicht einmal das deutsche Kind, es war nichts, man sagte bloß, es tanze jemand) [bricht ab.]


[Ein dein vorigen Brief Max Brods beigelegter Fragebogen, von Franz Kafka ausgefüllt und retourniert.]


Fragebogen

Gewichtszunahme? 8 kg

Totalgewicht? über 65 kg

objektiver Lungenbeftind? Geheimnis des Arztes, angeblich günstig

Temperaturen? im allgemeinen fieberfrei

Atmung? nicht gut, an kalten Abenden fast wie im Winter Die einzige Frage die mich in Verlegenheit bringt

Unterschrift: Die einzige Frage die Mich in Verlegenheit bringt



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Oberinspektor: Siehe 1917 Anm.116.


"Literatur": Karl Kraus, Literatur oder Man wird doch da sehn. Magische Operette in 2 Teilen, Wien: Verlag "Die Fackel" 1921. Kafkas Ausdruck "Vor längerer Zeit" scheint allerdings übertrieben, denn diese Broschüre ist erst im Maiheft 1921 (Nr.568-571) der Fackel als "soeben erschienen" angezeigt worden.


das Mauscheln: Bezeichnung für die jüdische Händlersprache (und - gebärdensprache) in der Donaumonarchie, die aus deutschen und jiddischen Elementen zusammengesetzt war.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at