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Brief an Max Brod

[Matliary, Anfang Mai 1921]


Lieber Max, noch immer nicht verständlich? Das ist merkwürdig, aber desto besser, denn es war unrichtig, unrichtig als Einzelfall, unrichtig wenn man es nicht auf das ganze Leben ausdehnt. (Ausdehnt? Also verwischt? Ich weiß nicht.) Du wirst mit M. sprechen, ich werde dieses Glück nie mehr haben. Wenn Du zu ihr über mich sprichst, sprich wie über einen Toten, ich meine, was mein "Außerhalb", meine "Exterritorialität" betrifft. Als Ehrenstein letzthin bei mir war, sagte er etwa, in M. reiche mir das Leben die Hand und ich hätte die Wahl zwischen Leben und Tod; das war etwas zu großartig (nicht hinsichtlich M's, aber hinsichtlich meiner) gesagt, aber im Wesen wahr, dumm war nur, dass er an eine Wahl-Möglichkeit für mich zu glauben schien. Gäbe es noch ein Delphisches Orakel, hätte ich es befragt und es hätte geantwortet: "Die Wahl zwischen Tod und Leben? Wie kannst Du zögern?"

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    Du schreibst immer vom Gesundwerden. Das ist ja für mich ausgeschlossen (nicht nur hinsichtlich der Lunge, auch hinsichtlich alles andern, in der letzten Zeit geht z. B. wieder eine Unruhe-Welle über mich, Schlaflosigkeit, Leiden unter dem kleinsten Geräusch und sie entstehen förmlich in der leeren Luft, davon könnte ich lange Geschichten erzählen, und wenn schon alle Tages- und Abendmöglichkeiten erschöpft sind, schließt sich dann wie heute in der Nacht eine kleine Gruppe von Teufeln zusammen und unterhält sich fröhlich um Mitternacht vor meinem Haus. Früh sind es dann die Angestellten, welche abend von einer christlich-sozialen Versammlung nachhause kamen, gute, unschuldige Leute. So wie der Teufel kann sich niemand maskieren) das also ist ausgeschlossen, sich nur diesen widerwillig lebenden Körper an, den das Gehirn, erschreckt darüber, was es angerichtet hat, nun wieder gegen sich zum Leben zwingen will, widerwillig lebend, er kann nicht essen und eine Abszeßwunde, gestern wurde der Verband abgenommen, braucht einen Monat lang große Verbände, ehe sie unschlüssig heilt (der fröhliche Doktor hat allerdings Hilfe bei der Hand: Arseninjektionen, ich danke) das also ist ausgeschlossen, aber ist auch nicht das Höchst-Wünschbare.

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    Du schreibst von Mädchen, kein Mädchen hält mich hier (besonders nicht die auf dem Bild, auch sind sie schon seit Monaten fort) und nirgends wird mich eines halten. Merkwürdig wie wenig Scharfblick Frauen haben, sie merken nur, ob sie gefallen, dann ob man Mitleid mit ihnen hat und schließlich ob man Erbarmen bei ihnen sucht, das ist alles, nun es ist ja im allgemeinen auch genug.

    Ich verkehre eigentlich nur mit dem Mediziner, alles andere ist nur nebenbei, will jemand etwas von mir, sagt er es dem Mediziner, will ich etwas von jemandem, sage ich es ihm auch. Trotzdem, Einsamkeit ist das nicht, gar keine Einsamkeit, ein halb-behagliches Leben, äußerlich halb behaglich in einem wechselnden Kreis äußerst freundlicher Leute, freilich, ich ertrinke nicht vor aller Augen und niemand muß mich retten und auch sie sind so freundlich, nicht zu ertrinken, auch hat manche Freundlichkeit ganz deutliche Gründe, so z. B. gebe ich viel Trinkgeld (verhältnismäßig viel, es ist alles billig genug), was notwendig ist, denn der Oberkellner hat letzthin an seine Frau nach Budapest einen öffentlich bekanntgewordenen Brief geschrieben, in dem er zwischen den Gästen je nach ihren Trinkgeldern so etwa unterscheidet: "zwölf Gäste können bleiben, die andern aber kann der Teufel holen" und nun fängt er an, die andern namentlich mit Anmerkungen litaneiartig aufzuzählen: "die liebe Frau G. (übrigens wirklich eine liebe junge kindliche Bauernfrau aus der Zips) kann der Teufel holen u. s. w." Ich war nicht darunter: werde ich geholt, wird es ganz gewiß nicht wegen zu kleinen Trinkgeldes sein.

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    Oskar ist also doch bei der "Presse", nicht beim "Abendblatt"? Ist das Blatt also doch so, dass man ihm dazu raten konnte? Die Stunden hat er aufgegeben? Könntest Du mir einmal eine Nummer mit einem Aufsatz Oskars schicken? Ich habe das Blatt noch nicht gesehn. Paul Adler ist auch dabei? Und Felix? Solche Dinge gab es doch irgendwie schon. Es steigert sich? Es greift ihn im Kern an? Das tat es doch bisher nicht eigentlich, im Grunde lebte er immerhin noch in Rom und nur an den asiatischen Grenzen wurde mit den Barbaren gekämpft. Ist es schlimmer geworden? Das Kind?

Jetzt wird doch Sommerwohnung sein? Lebe wohl


Franz        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


"Exterritorialität" . . . Ehrenstein: Kafka bezieht sich auf Albert Ehrensteins Aufsatz "Ansichten eines Exterritorialen", der zehn Jahre zuvor (Die Fackel, Nr. 323, 18. Mai 1911, S.1-8) erschienen war. (Vgl. hierzu Hannelore Rodlauer, op. cit. S. 216 f.).


bei der Presse: Siehe Anm.54 oben.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at