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[Matliary, Ende April 1921]


Lieber Max, solltest Du meinen letzten Brief (über Schreiber und über M.) nicht bekommen haben? Es wäre möglich, dass er falsch adressiert war. Leid täte es mir, wenn ihn ein Fremder in die Hand bekommen hätte.

    Vielen Dank für das Feuilleton, das Pariser Tagebuchblatt. Du weißt nicht was für Freude Du mir damit machst, sonst würdest Du mir alles schicken, was von Dir erscheint. Nicht einmal was in der Selbstwehr erscheint, erfahre ich vollständig, von dem Kuh-Aufsatz z. B. (ein wenig wild, ein wenig in hohen Tönen, ein wenig eilig, aber eine solche Freude zu lesen) kenne ich nur den zweiten Teil. Und solche Kritiken wie über Racine schreibst Du öfters? (Hübsch übrigens, wie Du in der ersten Spalte einschläfst und in der letzten beim Aufwachen Dich ärgerst, dass so wenig Publikum da ist. Merkwürdig auch, wie Du mit einer Art Verzweiflung, aber glücklich darüber, dass Du lebst, auf diesem alten Grab den Zweck von Racine suchst, was doch unmöglich ist, denn damit gerät man in alle Windrichtungen zugleich, wenn man nicht eben zur Seite tritt und so schön phantasiert, wie Du dort.)

    Dank auch dafür, was Du über den Mediziner sagst, er verdient es, allerdings vielleicht wird er doch noch länger außerhalb der Stadt bleiben müssen, als bis zum Herbst, dabei sieht man ihm von seiner Krankheit gar nichts an, ein großer, starker, breiter, rotwangiger, blonder Mensch, im Kleid ist er fast zu stark, hat gar keine Beschwerden, hustet nicht, hat nur manchmal erhöhte Temperatur. Nachdem ich ihn äußerlich ein wenig vorgestellt habe (im Bett, im Hemd, mit zerrauftem Haar, mit einem Jungengesicht wie aus Hoffmanns Kindererzählungs-Kupferstichen und dabei ernst und angespannt und doch auch in Träumen - so ist er geradezu schön), ihn also vorgestellt habe, bitte ich für ihm um zweierlei. Das erste kannst Du wohl ohne viel Mühe aus Deiner Erfahrung beantworten. Auf was kann er in Prag, was Unterstützung oder Lebenserleichterung anlangt, hoffen? Er hat zwei Empfehlungen, eine verschlossene von einem Budapester Rabbiner an den Rabbiner Schwarz gerichtete und eine sehr gute von der Budapester Kultusgemeinde an die Prager, mit dem Anhang einer besonders herzlichen eines Rabbiners Edelstein, dessen Schüler er war. Nur fürchte ich freilich, solche Empfehlungen hat jeder Ausländer, der nach Prag kommt. Dann: Würde es für seine Zulassung zur Universität und sein sonstiges Leben eine wesentliche Erleichterung bedeuten, wenn er die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erwerben würde? (Das könnte er vielleicht, er hat einen unverfänglichen Namen: Klopstock und sein - längst gestorbener - Vater stammte aus der Slowakei.) . . .

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    Du fragst nach meiner Gesundheit. Die Temperaturen sind günstig, Fieber ist äußerst selten, selbst 36,9 ist bei weitem nicht täglich, und das alles im Mund gemessen, wo es zwei bis drei Zehntel wärmer ist als in der Achselhöhle; wären nicht zu viel Schwankungen, könnte man sie fast normal nennen, freilich liege ich ja meistens. Husten, Auswurf, Atemnot sind schwächer geworden, aber schwächer genau seitdem das Wetter besser geworden ist, also eher eine Wetterals Lungenverbesserung. Zugenommen habe ich etwa 6½ kg. Ärgerlich ist, dass ich nicht zwei Tage hintereinander, selbst abgesehen von der Lunge und der Hypochondrie, vollständig gesund bin. Deine Ratschläge mißachte ich durchaus nicht. Aber die Lokopansalbe ist hier unbekannt, die hübsche, zarte, hohe, blonde, blauäugige Apothekerin in Lomnitz sah mich prüfend an, ob ich sie nicht zum Narren halte, es kann sich ja auch wirklich jeder zum Zeitvertreib einen komischen Namen erfinden und fragen, ob diese Salbe zu haben ist. Die Injektionen - nun, Dr. Kral ist dafür, mein Onkel dagegen, der hiesige Doktor dafür, Dr. Szontagh in Smokovec dagegen und ich allerdings dirimiere in diesem Konsilium dagegen, daran kannst Du doch, Max, nichts aussetzen, besonders da Du in Deinem Buch doch auch warnst. Den Aufsatz über Impfungen habe ich schon vorher gelesen, die Ostrauer Morgenzeitung ist die einzige, die ich fast täglich jetzt bekomme, auch diese medizinische, übrigens zum Teil deutlich von einem Humoristen geschriebene Beilage lese ich. (Sie dürfte übrigens auch die einzige fachwissenschaftliche Lektüre des hiesigen, mir aber sehr lieben Arztes sein.) In dem Aufsatz stehn die üblichen künstlichen Statistiken, die gegenüber den Einwänden der Naturheilkunde ("Kein Geimpfter ist vor dem Tode glücklich zu preisen") belanglos sind, die Medizin untersucht die schädlichen Folgen in ganz beschränkter Zeit, dafür hat die Naturheilkunde nur Verachtung. Es ist auch glaubwürdig, dass die Tuberkulose eingeschränkt wird, jede Krankheit wird schließlich eingeschränkt. Es ist damit so wie mit den Kriegen, jeder wird beendet und keiner hört auf. Die Tuberkulose hat ihren Sitz ebensowenig in der Lunge, wie z. B. der Weltkrieg seine Ursache im Ultimatum. Es gibt nur eine Krankheit, nicht mehr, und diese eine Krankheit wird von der Medizin blindlings gejagt wie ein Tier durch endlose Wälder. - Aber vernachlässigt habe ich Deine Ratschläge nicht. Wie konntest Du das denken.

Franz        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


das Feuilleton: Siehe Anm. 59 unten.


Pariser Tagebuchblatt: Nicht identifiziert.


Kuh-Aufsatz: Brods Aufsatz "Der Nietzsche-Liberale. Bemerkungen zu dem Buch von Anton Kuh "Juden und Deutsche"" war in der Selbstwehr (vom 1. und B. April 1921) erschienen. Vgl. 1917 Anm.52.


über Racine: Max Brod, "Racines Bajazet", Prager Abendblattv, 15. April 1921.


Hoffmanns: Heinrich Hoffmann (1809-1894), Autor und Illustrator von vielgelesenen Kinderbüchern, darunter dem Struwwelpeter.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at