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[Matliary, ca. 13/14.4. 1921]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Berlin Hauptpostlagernd

[Abs.:] Dr Kafka Tatranske Matliary Villa Tatra Tschechslovakei


Liebster Max, gleich wie ich das Buch bekommen habe, habe ich es an diesem Tag zweimal, fast dreimal gelesen, dann gleich weggeborgt, damit es schnell weiter gelesen werde; nachdem ich es bekommen habe, habe ich es zum viertenmal gelesen und jetzt wieder weggeborgt, solche Eile hatte ich. Aber es ist verständlich, denn das Buch ist so lebendig und wenn man einige Zeit im dunklen Schatten gestanden ist und solches Leben sieht, drängt man sich hinein. Es ist kein eigentlicher Nachruf, es ist eine Hochzeit zwischen euch beiden, lebendig und traurig und zum Verzweifeln wie eben eine Hochzeit ist für die, welche heiraten, und glücklich und zum Augenaufreißen und zum Herzklopfen für die, welche zusehn, und wer könnte zusehn, ohne selbst dabei zu heiraten, und liege er auch im allereinsamsten Zimmer. Und dieses Lebendige steigert sich noch dadurch, dass nur Du davon berichtest, der überlebende Starke, und dies so zart tust, dass Du den Toten nicht übertönst, sondern er mitsprechen und sich hörbar machen kann mit seiner tonlosen Stimme und sogar die Hand Dir auf den Mund legen kann, um Deine Stimme, wo es in seinem Sinne nötig ist, zu dämpfen. Wunderbar ist das. Und trotzdem ist, wenn man will - so gibt sich das Buch dem Willen des Lesers hin, so sehr gibt es ihm Willensfreiheit bei aller innern Kraft - doch wieder nur der Lebende, der Sprecher in aller Riesenhaftigkeit, die Leben gegenüber dem Tode hat für die Lebenden, es steht da wie ein Grabmal, aber zugleich wie die Säule des Lebens und am unmittelbarsten ergreifen mich Stellen, die wahrscheinlich für Dich unwesentlich sind, etwa wie diese: "War nun ich verrückt oder war er es?" Hier steht der Mann, der Treue, der Unveränderliche, das immer offene Auge, die nicht versiegende Quelle, der Mann, der - ich drücke es paradox aus, meine es aber geradewegs - das Begreifliche nicht begreifen kann.

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    Das war gestern, ich wollte noch einiges sagen, heute aber kam ein Briet von M. Ich soll Dir nichts von ihm sagen, denn sie habe Dir versprochen, mir nicht zu schreiben. Ich schicke das voraus, und damit :st es ja in Beziehung auf M. so, wie wenn ich Dir nichts gesagt hätte; das weiß ich. Was für ein Glück, Max, Dich zu haben.

    Ich muß Dir aber von dem Brief schreiben aus folgendem Grunde. M. schreibt dass sie krank ist, lungenkrank, das war sie ja schon früher, kurz ehe wir zusammenkamen, aber damals war es leicht, ganz unwesentlich, in dieser scheuen Art, mit der die Krankheit manchmal kommt. Jetzt soll es schwerer sein, nun, sie ist stark, ihr Leben ist stark, meine Phantasie reicht nicht aus, M. krank mir vorzustellen. Auch hattest Du ja andere Nachrichten über sie. Immerhin, sie hat ihrem Vater geschrieben, er war freundlich, sie kommt nach Prag, wird bei ihm wohnen und später nach Italien fahren (einen Vorschlag des Vaters, nach der Tatra zu fahren, hat sie abgelehnt, aber jetzt in der Mitte des Frühjahrs nach Italien?). Daß sie bei ihrem Vater wohnen wird, ist sehr merkwürdig; wenn sie so versöhnt sind, wo bleibt ihr Mami?

    Aber wegen dem allen würde ich Dir davon nicht schreiben, es handelt sich natürlich nur um mich. Es handelt sich darum, dass Du mich von M's Aufenthalt in Prag (von dem Du ja wohl erfahren wirst) und von sciner Dauer verständigst, damit ich nicht etwa um diese Zeit nach Prag komme, und dass Du Irrich verständigst, wenn M. doch vielleicht in die Tatra fahren sollte, damit ich rechtzeitig von hier fortfahre. Denn eine Zusammenkunft, das würde nicht mehr bedeuten, dass sich die Verzweiflung die Haare rauft, sondern dass sie sich Striemen kratzt in Schädel und Gehirn.

    Du sollst aber, wenn Du mir diese Bitte erfüllst, nicht dabei wieder sagen, dass Du mich nicht verstehst. Schon vor längerer Zeit wollte ich Dir darüber schreiben, war zu müde, habe es wohl auch schon öfters angedeutet, es wird Dir nichts Neues sein, aber grob habe ich es noch nicht herausgesagt. Es ist auch an sich nichts Besonderes, eine Deiner frühesten Geschichten beschäftigt sich damit, allerdings freundlich, es ist eine Erkrankung des Instinkts, eine Blüte der Zeit, es gibt je nach der Lebenskraft Möglichkeiten, sich damit irgendwie abzufinden, ich finde entsprechend meiner Lebenskraft keine Möglichkeit oder doch die Möglichkeit mich zu flüchten, allerdings in einem Zustand, der es dem Außenstehenden (übrigens noch mehr mir selbst) unverständlich macht, was hier noch gerettet werden soll, aber man läuft ja nicht immer, um sich zu retten, auch die Asche, die der Wind aus dem Brandhaufen fortbläst, fliegt nicht weg, um sich zu retten.

    Ich rede nicht von den glücklichen, in dieser Hinsicht glücklichen Zeiten der Kindheit, als die Tür noch geschlossen war, hinter der das Gericht beriet (der alle Türen füllende Geschworenen-Vater ist seitdem längst hervorgetreten), später aber war es so, dass der Körper jedes zweiten Mädchens mich lockte, der Körper jenes Mädchens, in das ich (deshalb?) meine Hoffnung setzte, gar nicht. Solange sie sich mir entzog (F) oder solange wir eines waren (M), war es nur eine Drohung von ferne und nicht einmal gar so ferne, sobald aber irgendeine Kleinigkeit geschah, brach alles zusammen. Ich kann offenbar, meiner Würde wegen, meines Hochmuts wegen (auch wenn er noch so demütig aussieht, der krumme Westjudel) nur das lieben, was ich so hoch über mich stellen kann, dass es mir unerreichbar wird.

    Das ist wohl der Kern des Ganzen, des allerdings ungeheuer angewachsenen Ganzen bis zu der "Todesangst" hin. Und es ist nicht alles nur Überbau dieses Kernes, sondern auch Unterbau gewiß.

    In diesem Zusammenbruch war es dann aber schrecklich, davon kann ich nicht reden. Nur eines: im Hotel Imperial hast Du Dich getäuscht; was Du für Begeisterung hieltest, war Zähneklappern. Glück waren nur die der Nacht entrissenen Bruchstücke von vier Tagen, die förmlich unangreifbar im Kasten schon eingesperrt waren, Glück war das Stöhnen nach dieser Leistung.

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Und nun habe ich hier wieder ihren Brief, in dem nichts verlangt wird als eine einmalige Nachricht, auf die keine Antwort erfolgen soll, einen schläfenzermarternden Nachmittag hinter mir, eine Nacht vor mir, mehr aber wird es nicht werden. Sie ist mir unerreichbar, damit muß ich mich abfinden, und meine Kräfte sind in einem solchen Zustand, dass sie es jubelnd tun. So kommt zu dem Leid noch die Schande, es ist etwa so wie wenn Napoleon zu dem Dämon der ihn nach Rußland rief, gesagt hätte: "Ich kann jetzt nicht, ich muß noch die Abendmilch trinken" und wenn er dann, als der Dämon noch fragte: "Wird denn das lange dauern?" gesagt hätte: "Ja, ich muß sie fletschern."

    Jetzt also verstehst Du es?

F        
 


Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


das Buch: Adolf Schreiber (siehe 1917 Anm.22).


im Hotel Imperial ... nach dieser Leistung: Es handelt sich um ein Gespräch mit Brod am 8. Juli 1920 im Prager Café Imperial, wobei ihm Kafka über seinen Aufenthalt in Wien mit Milena erzählt hat (zu diesen "4 Tagen" - 30. Juni bis 3. Juli - siehe M). In Brods Tagebuch heißt es zum B. Juli: "Donnerstag Kafka bei mir. Sein Glück, an dem ich teilnehme. - Zu K.'s Büro. 2 Briefe. "Ernst weiß alles". Also Entscheidung. Wir sitzen im Café Imp. und beraten weitere Schritte."


fletchern: Siehe 1920 Anm.5.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at