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Brief an Max Brod

[Matliary, ca. 11.3.1921]


Liebster Max, eine Bitte um einen sehr großen Dienst, der überdies gleich getan werden müßte. Ich will noch hier bleiben nicht gerade hier, aber in der Tatra, im Sanatorium Dr Guhr in Polianka wahrscheinlich, das man mir lobt, das allerdings auch viel teuerer ist als Matliary.

    Ich will bleiben aus folgenden Gründen:

1) Zunächst droht mir der Doktor hier mit der Möglichkeit vollständigen Zusammenbruchs, wenn ich jetzt nach Prag fahre und verspricht mir wenn ich bis zum Herbst bleibe, annähernde Gesundung, so dass dann jährlich 6 Wochen See oder Gebirge genügen, um mich zu halten. Beide Prophezeiungen, die zweite mehr als die erste, sind übertrieben, immerhin, er quält mich jeden Morgen damit, väterlich, freundschaftlich, auf alle Arten. Und wenn ich auch weiß, dass seine Prophezeiungen in jeder Hinsicht viel weniger großartig wären, wenn er wußte, dass ich nach Polianka übersiedeln will, so macht es doch Eindruck auf mich.

2) Von zuhause bitten mich alle zu bleiben, mit mehr Grund, als sie selbst wissen. Ich glaube seitdem ich hier unter Lungenkranken lebe, fest daran, dass es zwar keine Ansteckungsmöglichkeit für gesunde Menschen gibt, das sind aber nur etwa Holzhacker im Walde oder die Mädchen in der hiesigen Küche (die mit den blossen Händen die Speisereste von den Tellern solcher Kranker wegessen, denen nur gegenüber zu sitzen ich mich scheue) aber wohl kein einziger aus unsern Kreisen in der Stadt. Was für eine Widerlichkeit z. B. einem Kehlkopfkranken (Blutsverwandter der Lungenkranken, der traurigere Bruder) gegenüberzusitzen, der freundlich-harmlos Dir gegenübersitzt, mit den verklärten Augen der Lungenkranken Dich ansieht und Dir dabei zwischen seinen gespreizten Fingern Eiterteilchen seiner tuberkulösen Geschwüre ins Gesicht hustet. Nicht ganz so schlimm, aber ähnlich würde ich zuhause sitzen als "guter Onkel" zwischen den Kindern.

3) Vielleicht würde ich Frühjahr und Sommer in Prag ganz gut überstehn, wenigstens riet mir Dr Kral brieflich, zu kommen, jetzt scheint er den Eltern gegenüber diesen Rat wieder zurückgenommen zu haben (diese Schwankungen erklären sich durch die Schwankungen meiner Schreibweise) aber richtiger wäre es doch vielleicht auf einmal etwas halbwegs Entscheidendes zu tun, wenn es wie dieser Doktor behauptet wirklich sich bessert. Und wo könnte ich in der warmen Zeit besser untergebracht sein als im Hochgebirge (Polianka ist über 1100 m hoch). Ich wußte wo ich besser untergebracht wäre; in einem Dorfe mit einer leichten Arbeit, aber das Dorf kenne ich nicht.

4) Das Entscheidende ist aber mein subjektiver Zustand, der ist - natürlich gibt es noch unendlich viel Verschlechterungsmöglichkeiten - nicht gut, Husten und Atemnot sind stärker als sie jemals waren, mitten im Winter - es war ein schwerer Winter, nicht was Kälte anlangt, aber unaufhörliche wilde Schneestürme - war die Atemnot manchmal fast verzweifelt, jetzt bei schönem Wetter ist es natürlich besser. Ich sage mir nun: entweder hat mein subjektives Befinden Recht, dann ist es gleichgültig was mit meinem Posten geschieht, - nein hier irre ich ab, dann ist es erst recht nicht gleichgültig, was mit dem Posten geschieht, dann brauche ich ihn ganz besonders, aber wenn ich annähernd gesund werde, brauche ich ihn weniger.

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Mein Urlaub geht am 20ten März zuende, zulange habe ich überlegt, was ich tun soll, aus lauter Ängstlichkeit und Bedenken habe ich bis jetzt zu den letzten Tagen gewartet, wo die Bitte um Urlaubsverlängerung fast zur unanständigen Erpressung wird. Denn der eigentliche Gang der Sache hätte der sein müssen, dass ich zuerst den Direktor über seine Meinung gefragt, dann entsprechend der Antwort ein Gesuch gemacht hätte, dann dieses Gesuch dem Verwaltungsausschuß vorgelegt worden wäre u.s.f. Zu dem allen ist es nun natürlich viel zu spät, schriftlich kann nichts mehr gemacht werden, das Erpresserische kann nur durch eine mündliche Bitte gemildert werden, ich könnte also nach Prag fahren, aber soll ich die Zeit verfahren? Dann könnte ich Ottla bitten hinzugehn, aber soll ich sie in ihrem Zustand darum bitten? Auch will ich ihr das Ganze nicht so ausführlich erklären wie Dir. Bleibst also nur Du, Max, dem ich die Last auflege.

    Die Bitte ist, dass Du so bald als möglich zu meinem Direktor, Dr Odstrčil gehst mit dem ärztlichen Zeugnis, das ich beilege (ich bekomme es erst nachmittag, hoffentlich wird es so, wie wir es besprochen haben), am besten wird es wohl sein, gegen 11 Uhr vormittag hinzugehn; was zu sagen ist, weißt Du natürlich viel besser als ich, ich will nur sagen, wie ich es mir denke, etwa:

    Ich bin zweifellos fähig ins Bureau zu gehn (zur Seite gesprochen: auch fähig für die Arbeit (!) die ich dort habe) aber das war ich auch, ehe ich her fuhr, ebenso zweifellos ist aber, dass ich im Herbst wieder wegfahren müßte und wieder in ein wenig schlechterem Zustand als im letzten Herbst. Der Arzt verspricht mir nun dauernde Arbeitsfähigkeit wenn ich 4-6 Monate bleibe, ich bitte also um einen weitem Urlaub, zunächst etwa um 2 Monate, nach denen ich wieder ein detailliertes ärztliches Gutachten einschicken werde. Ich bitte um diesen Urlaub, wie er mir auch gegeben werden mag mit ganzem, ¾, ½ Gehalt, nur ganz gehaltlos soll man mich nicht lassen, auch mit der Pensionierung noch zuwarten. Übrigens kann man dieses ½ Jahr auch aus der Vorrückung und der Pensionierungszeit streichen. Eine gewisse derartige eingeschränkte Urlaubsbewilligung wäre mir sogar eine Erleichterung, denn ich bin mir übergut dessen bewußt, was ich an Urlauben schon von der Anstalt bekommen habe. Die Art, wie ich jetzt um den Urlaub bitte ist gewiß unpassend und nur damit zu entschuldigen dass ich bis jetzt mich mit Bedenken herumgeschlagen und darum auch erst jetzt ausführlicher mit dem Doktor gesprochen habe. Ich weiß auch, dass zuerst ein Gesuch eingebracht werden muß u.s.w. aber vielleicht wäre es möglich, mich das Gesuch nachträglich einbringen zu lassen und, vorausgesetzt dass mit einer Bewilligung sicher gerechnet werden kann, mich hier zu lassen, ohne dass ich am 20. den Dienst antreten muß. Ist das aber nicht möglich, könnte ich ja immerhin für einige Zeit nach Prag kommen.

    Das also wäre etwa zu sagen und dann müßtest Du Max mir telegraphieren "Bleib dort" oder "Komm her".

    Nun noch einiges über den Direktor. Er ist ein sehr guter, freundlicher Mensch, besonders zu mir war er außerordentlich gut, allerdings haben dabei auch politische Gründe mitgespielt, denn er konnte den Deutschen gegenüber sagen, er habe einen der ihrigen außerordentlich gut behandelt, aber im Grunde war es doch nur ein Jude.

    Über die Gehaltsfrage sprich bitte nicht nachlässig, auch Reichtum meines Vaters erwähne nicht, denn erstens besteht er wahrscheinlich nicht und zweitens gewiß nicht für mich.

    Die Unkorrektheit meines Vorgehens betone, denn an Korrektheit, an Wahrung seiner Autorität ist ihm viel gelegen.

    Das Gespräch wird sicher ins Allgemeine abgelenkt werden undzwar von ihm, gar da Du es bist, der kommt. Da könntest Du vielleicht - nicht um ihn zu bestechen, daran liegt mir nichts - aber um ihm eine Freude zu machen, denn ich fühle mich ihm wirklich sehr verpflichtet, flüchtig erwähnen, dass ich öfters von seiner geradezu schöpferischen Sprachkraft gesprochen und erst durch ihn das gesprochene lebendige Tschechisch bewundern gelernt habe. Vielleicht wirst Du nicht viel davon merken, es hat sich diese Kraft in seiner Rede, seitdem er Direktor ist, fast verloren, der Bureaukratismus läßt sie dort nicht mehr aufkommen, er muß zuviel sprechen. Übrigens ist er sociologischer Schriftsteller und Professor, aber davon mußt Du nicht wissen. - Du kannst natürlich sprechen wie Du willst, deutsch oder tschechisch.

    Das wäre also die Aufgabe. Wenn ich daran denke, dass ich zu Deiner vielen Arbeit noch derartiges hinzufüge habe ich mich glaube mir - nicht sehr gern, aber man ist von Bedenken eingekreist, irgendwo muß man durchbrechen und Du Max mußt leiden. Verzeih mir

Dein        
 


Noch etwas: es wäre nicht unmöglich dass Ottla aus eigenem etwas ähnliches eingeleitet hat, dann wäre es gut, vorher bei uns nachzufragen.

    Vielleicht scheint es Dir, dass ich dem Bureau gegenüber zu ängstlich bin. Nein. Bedenke, dass das Bureau an meiner Krankheit ganz unschuldig ist, ferner dass es nicht nur unter meiner Krankheit sondern schon unter ihrer 5jährigen Entwicklung gelitten hat, ja dass es sogar noch eher mich aufrecht gehalten hat, als ich bewußtlos durch die Tage nur taumelte.

    Wenn ich hierbleiben sollte, dann sehe ich Dich also doch vielleicht hier, das wäre schön.

    Grüß vielmals Deine Frau und Felix und die seine und Oskar und die seine



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


in ihrem Zustand: Ottla Davidovás erstes Kind, Věra, wurde am 27. März 1921 geboren.


Dr Odstrčil: Zu Dr. Bedřich Odstrčil und zur Frage, wie sich die Tschechisierung der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt auf Kafka auswirkte, siehe AS 63-66.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at