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Brief an Max Brod

[Matliary, Anfang März 1921]


Liebster Max,

ich sehe, es wird kein Brief mehr, run ich komme ja in 2 Wochen, ich kann dann vielleicht an der Hand Deines Briefes mündlich antworten.

    Als ich diesen Brief bekam, der mir in manchem sehr naheging, habe ich ihn in Gedanken förmlich in einem Ausbruch beantwortet, aber zum Schreiben kam es nicht, ein paar Briefe lagen da, die zu beantworten waren (sie sind es noch heute nicht), der Budapester, von dem ich letzthin schrieb, nahm mich eine Zeitlang fast vollständig in Anspruch, vor allem aber steigerte sich die Müdigkeit, ich liege stundenlang im Liegestuhl in einem Dämmerzustand, wie ich ihn als Kind an meinen Großeltern angestaunt habe. Es geht mir nicht gut, zwar der Arzt behauptet, die Sache in der Lunge sei um die Hälfte zurückgegangen, ich würde aber sagen, es sei weit mehr als doppelt so schlecht, niemals noch hatte ich solchen Husten, niemals solche Atemnot, niemals eine solche Schwäche. Ich leugne nicht, dass es in Prag noch viel schlechter geworden wäre; wenn ich aber bedenke, dass die äußern Umstände, von verschiedenen Störungen abgesehn, diesmal günstig genug waren, so weiß ich überhaupt nicht, auf welche Weise es irgendwie noch sich bessern könnte.

    Aber es ist dumm und eitel, so zu reden und es so wichtig zu nehmen. Wenn man mitten in einem kleinen Hustenanfall ist, kann man nicht anders als es äußerst wichtig nehmen; wenn er aber nachgelassen hat, kann man anders und soll es. Wenn es dunkel wird, wird man noch eine Kerze anzünden, und wenn sie niedergebrannt ist, wird man still im Finstern sein. Eben weil im Hause des Vaters viele Wohnungen sind, soll man keinen Lärm machen.Ich bin schon froh, dass ich von hier fortfahre vielleicht hätte ich es schon vor einem Monat tun sollen, aber ich bin so schwer beweglich und habe hier von den verschiedensten Leuten so viel unbegreifliche Freundlichkeit erfahren, dass ich, wenn mein Urlaub noch länger dauern würde, noch länger hier bliebe, gar in dem jetzt endlich schön werdenden Wetter. In der Liegehalle im Wald konnte ich schon einigemal mit nacktem Oberkörper liegen und auf meinem Balkon einmal schon ganz nackt.Durch das Obige könntest Du zu dem Glauben kommen, dass ich die Kur nicht ernst nehme. Im Gegenteil, ich nehme sie wütend ernst, ich esse sogar Fleisch, mit noch größerem Widerwillen als anderes, es war ein Fehler, dass ich bisher nicht unter Lungenkranken gelebt und der Krankheit eigentlich noch nicht in ihre Augen geschaut habe, erst hier habe ich das getan. Aber die letzte Gelegenheit, ein wenig gesund zu werden, war wahrscheinlich in Meran gegeben. - Nun aber endgiltig genug davon, ich schreibe es auf, um in Prag nicht mehr davon reden zu müssen.

    Du schreibst von Salomo Molcho, als hätte ich schon jemals von ihm gehört. Ich habe doch viel versäumt in dem Vierteljahr.

    Auf Wiedersehn!

Franz        
 


Das Wickersdorfer Rundschreiben kommt gut zum Thema. Den Essig-Brief hatte ich schon vorher zufällig in einer Zeitung gelesen und Dir ihn als Beispiel besonderer Abscheulichkeit schicken wollen "die Äugchen die so lieb im Herzen kitzeln". Natürlich ist im Grunde nichts abscheulich daran, als dass der Brief jetzt veröffentlicht wird und weiters, dass den Briefschreiber schon die Würmer aufgefressen haben.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Wickersdorfer Rundschreiben: Zum Landerziehungsheim in Wikkersdorf (Thüringen) siehe 1917 Anm. 90.


Essig-Brief: Siehe 1917 Anm. 85.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at