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Max Brod an Franz Kafka

[Prag]

21.II.21
 

Liebster Franz ich hätte dir nicht Tage, sondern Wochen lang zu erzählen. Weil dies so aussichtslos, zögerte ich mit diesem Brief länger als sonst. Überdies bin ich erst seit 3 Tagen in Prag u. fand u. a. die Korrektur des ganzen theoretischen Buches vor. Deinen Brief habe ich in Berlin und nach der Heimkehr in Prag behoben. - Zunächst, was dich wohl besonders interessiert: ich sprach neulich mit Herrn Rosenfeld, er war in Wien und hat bei Polak gewohnt - ich fragte ihn vorsichtig, wie es dem Ehepaar gienge - er sagte: gut- auch die Frau, nach der ich noch speziell fragte, befindet sich wohl. Daß ich ganz unauffällig und in einem absichtlich verlängerten Gespräch gefragt habe, ist selbstverständlich.

    Ich lese deinen Brief nochmals auf die Fragen hin durch, denn sonst vergißt man die leicht bei der Antwort auf einen so unermeßlichen Komplex. - 1.) Oskar habe ich seit der Heimkehr noch nicht gesehen. Dagegen heute Felix. Er berichtete Gutes von Oskar, der jetzt große Vortrags-Erfolge hat (über Weinfinger). Nebenbei: Wird dir die Selbstwehr nachgeschickt?? - Felix leidet stumm an seiner Ehe, das heißt: selbst seine eventuellen Gegenangriffe sind zu stumm dieser absolut unbesiegbaren Frau gegenüber, die ja leider auch eine gewisse Art Recht für sich hat, - denn für sie ist eben Felix in jeder Beziehung zu stumm. Es ist ein Unglück. Und obwohl Felix sehr stark ist in seinem passiven Ertragen (gerade das ist es, was die Frau nicht ertragen will!), fürchte ich, dass es in dieser Situation jedenfalls um seine Produktivität geschehen ist. Nun hat er aber gestern in Schelesen für Frau und Kind in Schelesen Sommerwohnung gemietet. Das wird wohl ein Aufatmen ergeben, vielleicht sogar eine innere Besserung, zu der ja manche Vorbedingung gegeben ist. - Dies alles würde dir Felix auch direkt mitteilen, deshalb mache ich mir kein Bedenken, es dir zu schreiben. Du weißt natürlich, inwiefern das Dinge sind, deren Schmerz kein Licht verträgt. Aber dass es ihm sehr wohltun würde (und auch Baum), wenn du ihnen einmal schreibst, ist zweifellos. - Dann, bitte, erwähne meine Mitteilung und Anregung nicht.

    2.) Absceß. - Trotz deiner Abneigung gegen Medizinen: ich hörte zufällig in Zwickau von der Erfindung eines neuen Zaubermittels, das - Das alle Geschwüre sehr schnell heilt, indem es den Eiter an sich zieht. Das Besondere ist eben, dass es alle Wunden, Geschwüre u. ä. heilt, die nicht spezifisch-bakteriologischer Natur sind. Meine Schwester und mein Schwager sind einen Furunkel binnen wenigen Tagen (ohne Neubildung) Iosgeworden. Das Mittel ist von einem ostjüdischen Arzt erfunden, von Schocken finanziert und wird, wie dieser sehr kluge und nüchterne Mann meint, die Welt erobern. Schon heute herrscht es an einigen deutschen Kliniken. Es heißt "Locopan-Salbe". Auskunft würde dir erteilen: Max Friedmann, Zwickau in Sachsen, Elsasserstraße 57. - Vielleicht fragst du deinen Arzt und machst einen Versuch. Es wurde einen Abend lang von nichts anderem als den wunderbaren Heilerfolgen dieses Mittels gesprochen. -

    3.) Roman und Kabbalah - ja sie hängen zusammen. Salomo Molcho war ja Kabbalist, die ganze Epoche war voll von Mystik. - Zum Arbeiten komme ich wohl noch lange nicht.

    4.) Auf die Tatra-Reise muß ich vorläufig verzichten, da ich am 1. März meinen neuen Posten antrete; und zwar hat sich meine Wahl entschieden, so wie du mir geraten hast - also nicht Zeitung, sondern tiskový gebar*. Ich fühle mich trotz allem nicht ganz rein in der Entscheidung. Es ist aber unmöglich, ohne Posten weiterzuleben, und ich muß nun sehen, meine Arbeit so einzurichten, dass sie das Gefühl von Unreinheit ex post dementiert. Solche Gefühle täuschen ja leicht, es steckt zum Beispiel auch eine hübsche Portion Faulheit, das fühle ich, hinter dem unbehaglichen Gefühl. - Ich kann dir gar nicht sagen, wie gern ich zu dir gefahren wäre, um mit dir alles durchzusprechen, wovon im Brief doch gar nicht die Rede sein kann. - Da fällt mir zum Beispiel ganz unvermittelt ein, [hier fehlt offenbar ein Blatt mit vier Manuskriptseiten]


geschah das - und es war so widerlich, die schlechtesten Eigenschaften des Judentums feierten eine Orgie in ihr (und wahrscheinlich auch in mir) - es war eine Schändung der Liebe, eine furchtbare Vorstellung, es war so, als sollte einmal alles alles geschehen, was gegen meine bessere Natur ist. - Doch dann kehrte ich wieder zu Emmy zurück, die nie etwas davon erfahren wird und es war etwas so Großartiges, Süßes - ich möchte mich wirklich ohrfeigen, dass ich nachträglich so undankbar fühle, nicht etwa: undankbar bin - ich werde immer Dank abzustatten suchen und ich werde ihn auch wieder fühlen, wie ich in Berlin gefühlt habe - aber ich fürchte doch: das Tiefste kommt nicht herauf. Und warum? Weil ich das "Lied der Lieder" auf sie nicht beziehen, weil ich es ihr nicht guten Gewissens vorlesen kann und weil ich nun einmal ganz klar fühle, wie ich eingefangen bin in meine nationale Bedingtheit.

    Was soll ich erzählen? - Ich war bei ihrem Lehrer, ich sicherte ihr die Stunden, ich nahm ihr eine Wohnung, während sie bisher unter dem Dach in einem sommerheißen oder unheizbaren Zimmer mit zwei andern Mädchen schlafen mußte. - Es ist wahnsinnig, wie viel sie zu arbeiten hat. Und was sie schon gelitten hat. Besonders von Männern. Und besonders von Juden, die sie daher auch für immer haßt. "Du bist gar kein Jude" sagte sie mir, nachdem ich ihr den Zionismus erklärt hatte, - als höchstes Lob. - Dieses Motiv nimmt überdies nur in der Erinnerung große Dimensionen an. In Berlin war es versteckt unter unsern vielerlei gemeinsamen Besorgungen, hinter einem Ausflug nach Potsdam, den sie dann öfters "Hochzeitsnacht" nannte und bei dem sich doch einiges zutrug, wozu sehr starke Nerven gehörten... - Ich merke eben, dass ich ganz ohne Zusammenhang schreibe. Auch ohne den richtigen inneren Zusammenhang. Ich bin noch wie betäubt. Vielleicht ordnet es sich mir bis zum nächsten Brief. Schreibe mir wieder bald als an deinen - sehr lügenhaften -


Max Koschel        

4 Beilagen


NB. Ihr Lehrer meint, dass sie sehr viel Talent hat und in 2 bis 3 Jahren eine große Sängerin sein wird.


* Pressedepartement.



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


theoretischen Buches: Heidentum, Christentum, Judentum.


Rosenfeld: Otto Rosenfeld, ein Freund Ernst Pollaks aus dessen Prager Zeit (siehe folgende Anm.).


Polak: Ernst Pollak (tschechische Namensform: Polak) (1886-1947), Milenas Ehemann, war bis zu seiner Übersiedlung im März 1918 nach Wien ein führender Geist im literarischen Leben Prags gewesen. Siehe Hartmut Binder, "Ernst Polak - Literat ohne Werk. Zu den Kaffeehaus-Zirkeln in Prag und Wien", Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 23 (1979), S. 366-415.


Vortrags-Erfolge .. . Weinfinger: Was Oskar Baum damals vorgetragen hat, ist in seinen Aufsatz "Otto Weinfinger" eingegangen, der im Sammelband Juden in der deutschen Literatur. Essays über zeitgenössische Schriftsteller, hrsg. von Gustav Krojanker, Berlin: Welt-Verlag 1922 (S. 121-138) erschienen ist. Baums Vortrag war in der Selbstwehr vom 18. Februar 1921 von Johannes Urzidil besprochen worden ("Judentum und Erotik. Oskar Baum über Weinfinger").


Schocken: Salman Schocken (1877-1959), Mäzen und Zionist, der 1931 den Schocken Verlag gründete.


Salomo Molcho: Für seinen Roman Rëubeni, Fürst der Juden hat Brod offenbar die historischen Quellen zu David Rëubenis Gegenspieler Salomo Molcho genau studiert.


"Lied der Lieder": Siehe 1920 Anm. 27.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at