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Brief an Max Brod

[Matliary, Anfang Februar 1921]


Lieber Max, ich habe Dir an die Koschel-Adresse einen endlosen Brief geschickt, er dürfte aber erst am 1. Feber angekommen sein. Du wirst ihn ja vielleicht noch bekommen, sollte es aber nicht sein, ist nichts verloren, so wie er kein Ende hatte, hatte er auch keine Mitte, nur Anfang, nur Anfang. Ich könnte gleich wieder von neuem anfangen, aber was finge Berlin damit an.

    Verzögert wurde der Brief durch die verschiedenen Störungen, die in ihm aufgezählt sind, die neueste steht noch nicht darin, die ahnte ich erst, als ich ihn wegschickte. Ich habe mich nämlich verkühlt oder vielmehr ich habe mich nicht verkühlt, ich wüßte nicht durch welche Einzelheit ich mich verkühlt haben sollte, das schlechte Wetter, ein schon 14 Tage fast ununterbrochen andauernder Sturmwind har mich einfach ohne viel Umstände ins Bett geworfen. Ich lag 4 Tage, auch heute noch, erst jetzt abend bin ich für eine Weilchen aufgestanden. Schlimm war es nicht, es war mehr eine vorsichtsweises zu-Bett-Liegen, ich habe nur gehustet und gespuckt, außerordentliches Fieber hatte ich nicht, der Doktor, der heute die Lunge genau behorchte, sagte, es sei nichts Neues dort, sie sei eher besser als vor ein paar Tagen; immerhin bin ich müde davon und das Gewicht, das Ende der fünften Woche schon 4.20 Zunahme zeigte, wird morgen gewiß, im günstigsten Fall, nur das gleiche sein. Aber trotz aller genug großen Müdigkeit und aller Störungen will ich vorläufig nicht klagen, alles was bisher in den 6 Wochen geschehen ist, hätte zusammengenommen und fest geknetet noch kaum die Durchschlagskraft von 3 Meraner Tagen und Nächten, allerdings hatte ich damals vielleicht doch noch mehr Widerstandskraft.

Mittwoch.

    Gestern abend wurde ich gestört, aber freundlich, es ist eine 2ljähriger Medizinstudent da, Budapester Jude, sehr strebend, klug, auch sehr literarisch, äußerlich übrigens trotz gröberen Gesamtbildes Werfel ähnlich, menschenbedürftig in der Art eines geborenen Arztes, antizionistisch, Jesus und Dostojewski sind seine Führer - der kam noch nach 9 Uhr aus der Hauptvilla herüber, um mir den (kaum nötigen) Wickel anzulegen, seine besondere Freundlichkeit zu mir kommt offerbar von der Wirkung Deines Namens her, den er sehr gut kennt. Bei ihm und dem Kaschauer hat natürlich die Möglichkeit Deines Herkommens großes Aufsehen gemacht.Zu dieser Möglichkeit schrieb ich in dem Prager Brief, dass ich sehr froh wäre, wenn Du kämest, aber nur unter der Voraussetzung, dass Du sonst eine slowakische Reise machst oder aber dass Du für Deine Erholung also für längere Zeit, kommen kannst. Sonst aber als besondere Reise, sei es von Prag aus oder von Brünn oder (Du schienst anzudeuten, dass Du es mit der Berliner Reise verbinden würdest) etwa von Oderberg oder sonst einem entfernten Ort fahre bitte nicht, das würde mir zuviel Verantwortung auferlegen.Und sei glücklich und froh in Berlin! Schrieb ich etwas Böses über die Dehmel-Briefe, so hat das gewiß auf Dich keinen Bezug. Eine Frau lieben und unangefochten von Angst sein oder wenigstens der Angst gewachsen und überdies diese Frau als Ehefrau zu haben, ist ein mir derart unmögliches Glück, dass ich es - klassenkämpferisch - hasse. Auch kenne ich nur die Briefe im Dezemberheft.Und was sollen überhaupt halbleere Befürchtungen gegen die Fülle des Lebens; sie ist in Deinem Buch, sie ist darin, wie sich die Zeiten und die Frauen darin sondern, und am stärksten allerdings in den ersten Gedichten, so mächtig wie im "Kuß" hast Du kaum noch gesprochen; ich fange das Buch eigentlich erst zu lesen an, mit klareren Augen, dem ersten schönen Tag seit Wochen und dem ersten Tag außerhalb des Betts, den ich jetzt beginne.Solltest Du kommen, könntest Du nicht eines der kabbalistischen Werke, ich nehme an, dass es hebräisch ist, mitbringen?

Dein F        
 



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Medicinstudent: Robert Klopstock (1899-1972), zu dem sich schnell die enge Freundschaft entwickelte, die bis zu Kafkas Tod dauerte.


dem Kaschauer: Siehe 1920, Anm.40.


Briefe im Dezemberheft: Siehe Anm. 10 oben.


in Deinem Buch: Das Buch der Liebe. Siehe Anm. 7 oben.


im "Kuß": Das Buch der Liebe, S. 20. Siehe auch 1907 Anm.12.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at