Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[Prag]
Max Brod an Franz Kafka
Lieber Franz,
Aus deinem Brief ersehe ich, dass ich meine Beziehung zu Emmy, so
heißt das Mädchen, doch sehr unvollständig dargestellt
habe. Es hat sich auch seitdem geändert. Ich erhielt zwei sehr liebe
Briefe. Der Feber ist auch nicht chimärisch, sondern am 3. Feber lese
in München (Ewer) und am 4. Feber bin ich in Berlin.
Du fragst, ob ich das Mädchen so ernst nehme wie die Beziehung zu
ihr? Gewiß. Sie hat seither auf meine Anregung (freilich habe ich
nur gedrängt, eine Dame half mit) ihre Stimme prüfen lassen und
wird Gesang lernen. Ihr höchster Wunsch ist, den Beruf zu wechseln,
Theater. Und sie hat recht, denn sie ist sehr musikalisch. Ich habe sie
in ihrem Wunsch bestärkt, und, wenn ich nun in Berlin bin, hoffe ich,
ihr auf manche Art zu nützen, zum Beispiel den Mann zu prüfen,
der sie geprüft hat und bei dem sie eben Stunden zu nehmen beginnt.
Auch finanzielle Hilfe u.s.f. Vielleicht gelingt es mir, etwas Entscheidendes
in ihrem Leben zum Guten zu lenken, den Beruf. Es war rührend, wie
sie klagte, sie dürfe auf ihrer Geige im Hotel nicht üben. Alle
freien Abende verbringt sie in Konzerten u.s.f. - dass ich also für
sie nicht mehr bedeute als irgendein "Gast", ist eine unrichtige
Meinung von dir. Und sie für mich? Du schreibst: "Dieses Mädchen
stand doch äußerlich ganz fern dem, was dich in Berlin bezaubert
hat, alles, was du sonst erlebtest, mußte eigentlich das Mädchen
hinabdrücken u.s.f." Ganz ganz falsch. Wie weit ist deine Ansicht
von mir! Die Wahrheit lautet: Berlin begann mich genau in dem Augenblick
zu bezaubern, in dem ich allein mit Emmy in einer "Diele" sitzend
ihre Hand ergriff. Es ist eine fürchterliche Schwäche von mir,
aber nachgerade muß ich mir sie eingestehen: Die Welt bedeutet mir
nur durch das Medium einer Frau irgendetwas. Ohne das ist sie mir uninteressant,
nichts als Verdruß und Stockung und Hindernis. - Diese auf die Frau
eingestellte, ihr völlig verfallene Naturanlage hat mich nun ein Jahr
lang auf dem untersten Niveau des Lebens, Vegetierens festgehalten. Mit
Schaudern denke ich an das verflossene Jahr. Ob es besser werden wird,
das, was jetzt beginnt? Gefahren sehe ich genug -aber besser als diese
Wüste, die ich eben verlasse, ist alles. -Dabei lebe ich aber mit
E. ausgezeichnet.
Und nun dein Vergleich zwischen uns beiden. - Deine
Idee, dass ich Unmögliches will, das Mögliche aber erreicht
habe während du, Unmögliches wollend, nicht einmal das Mögliche
erlangt hast. - Will ich Unmögliches? Insofern vielleicht, als Leben,
reines Leben überhaupt etwas Unmögliches ist. Das stimmt. Das
ist richtig. Aber meinst du es so? In der Liebe sehe ich nichts Unmöglicheres
als im Atmen, bei dem man so und so viel Leben notwendig vernichtet u.s.f.
Leben kann man nur kraft Wunders und mit der Liebe ist es genau so. Nur
ist wohl im Lieben das Wunder möglicher, denn Liebe ist schon ein
Grenzfall des Wunderbaren -, ein Confinium: würde Kierkegaard sagen.
Warum du nun aber vor der Liebe eine spezielle Angst hast, mehr Angst als
vor dem irdischen Dasein überhaupt, eine richtige "Todesangst"
sogar, wie du schreibst, - das verstehe ich eben durchaus nicht. - Wenn
du dich fürchtest, an das Unreine zu geraten, das in jeder körperlichen
Existenzform, im Berufsleben, Geldverkehr, im geselligen Verkehr etc. liegt,
das könnte ich verstehen. Warum aber vor der Liebe mehr Angst haben
als z. B. vor der Freundschaft, die doch auch niemals das "Unmögliche"
realisieren kann, jene völlige Hingabe und Hilfsbereitschaft und Verständnismöglichkeit
gegen einander -und die du trotzdem lebst, weil sie sich eben in der Nähe,
in der Sphäre dieses Ideals bewegt, es sprunghaft manchmal ergreift
(kraft des Wunders) und so wenigstens intermittierend eine göttliche
Angelegenheit wird. Mehr habe ich nie erlebt als "Intermittierend-Göttliches".
In der Liebe habe ich es am ehesten, am häufigsten erlebt. Warum also
vor ihr mehr Angst haben als vor anderen Angelegenheiten des Seins? Und
wenn man die schönen Briefe von Dehmel (im letzten
Heft der N. Rundschau) sieht, wächst zudem die Hoffnung in einem,
man könnte über das "Inter-mittierende" auch wohl
noch einmal höher hinauskommen, in den nächsten Rang . . .
Was also ist es mit deiner Angst? Angst wovor?
Das ist mir völlig unklar an dir. Angst vor Nichterreichen des Vollkommenen?
Nein, denn dann könntest du ja auch nicht essen, nicht ins Büro
gehen u.s.f. Also wovor diese Angst? -Vor Verpflichtungen, vor Konsequenzen?
Aber in deinem Falle (Milena) schienen sie doch ausgeschlossen, zumindest
vorläufig wurde nichts von dir verlangt. So schien es mir nach deinen
Andeutungen, du hast mir ja nie viel darüber gesagt, namentlich in
letzter Zeit nicht. - Vielleicht schreibst du doch einmal mir so, dass
ich dich verstehe. Wie steht die Sache heute - und warum steht sie so?
- Dann erst könnte ich den Vergleich zwischen uns beiden zu Ende führen.
Heute scheint es mir, dass ich durchaus nichts Unmögliches beginne,
- du aber dir das Mögliche ins Unmögliche wegeskamotierst - wobei
ein gemeinsames Unmögliche, uns wie allen Menschen unmöglich,
noch außerdem uns von allen Seiten, aber im Hintergrund, einschließt.
-
Es wäre ja sehr schlimm für mich, wenn
du mit deiner Ansicht über mich recht hättest. Dann hätte
ich eben vorübergehend ein Kompromiß geschlossen, mir eingebildet,
dass ich mit dem Möglichen das Auslangen finden werde, - und
nun sehe ich eben, dass ich mich gefoppt habe, - während du dieser
Selbstfopperei von vornherein aus dem Weg gehst? - Du als Walder
Nornepygge? - (der wegen seiner allzu gut funktionierenden Logik nicht
zum Leben kommt). - Mit all dem ist nicht erklärt (ich bleibe dabei),
warum du gerade in der Beziehung zur Frau "Angst" hast, nicht
in allem Leben.
Meine vielleicht allzu nüchterne Auffassung
deines Zustandes ist: dass du infolge deiner Krankheit geschwächt
ganz ähnlich wie kein Geräusch auch keine noch so zarte Beziehung
zu einer Frau erträgst, selbst wenn diese Beziehung an sich für
dich und für diese Frau sehr glückverheißend scheint. Denn
eine gewisse Friktion muß ja in jeder Beziehung von Mensch zu Mensch
sein, - zum Ertragen dieser Friktion, die nur im Moment des Wunders aussetzt,
zur Überwindung also der wunderlosen Zeit gehört Kraft. Diese
Kraft kannst du nur durch körperliche Gesundung erreichen. Dann wirst
du vielleicht auch das Verhältnis zu M. in ganz anderem, leichterem
Lichte sehen - und deshalb kann ich, soweit ich die Sache übersehe,
nur dazu raten, einige Zeit so zu leben, als ob diese Beziehung gar nicht
bestünde. Jedoch ohne festen Plan für das Weitere. Mit dem Vorbehalt
also, nach einer gewissen Zeit diese Beziehung als völlig Neues auf
dich nochmals einwirken zu lassen und die Wirkung an deiner hoffentlich
indessen gewachsenen Resistenz zu prüfen.
Verzeih, wenn ich dich mit Theorien füttere,
die vielleicht nur meinem Mißverstehen der Situation entspringen.
- Dafür sehe ich diesmal von Sanatorium-Ratschlägen ab. -Vielleicht
komme ich gegen Ende Feber für 3 Tage zu dir? Natürlich nur,
wenn es dir keine Ungelegenheit, Aufregung u.s.f. verursacht? Schreibe
mir unumwunden. - Es ist überdies auch eine Geldfrage, denn ich werde
vorher in Berlin viel ausgegeben haben.
Ich würde auch gern eine Angelegenheit mit
dir beraten, deren schriftliche Analyse fast unmöglich ist. - Mit
der Literatur allein geht es bei mir nicht. In Berlin flüchten alle
Dichter in feste Stellungen, Staatsdienst. "Fälscher"
sind noch nirgends angenommen, trotz Königsberg. Es herrscht Bankrott
der ernsten Literatur, man will nur Sensation, Tanz. (Hat man nicht Recht?
Die sogenannte "anständige" Literatur ist zu ? langweilig
oder outriert, - wie wenig ganz Großes gab es in der "Expressionismus"-Mode
und nun hat das Publikum vom Schwindel genug und die wahren Werte hat es
ja nie recht als solche verstanden, sondern sie giengen nur im Schwindel
so mit.) Darüber könnte man stundenlang schreiben.
Ich kann dir nicht all die literarischen Fehlschläge
der letzten Zeit aufzählen. - Mein Roman wird-aber
nur furchtbar langsam. - Ich lese jetzt jeden zweiten Tag mit Langer
schöne Kabbal. Werke. Geschrieben habe ich noch keine Zeile. Mache
mich auf ½ Jahr Studien gefaßt.
So die Lage. - Nun werden mir gleichzeitig zwei
Posten angeboten. Beide mit großen Vorteilen und Nachteilen.
1.) Ich soll bei dem neuen Regierungsblatt
das Musikreferat übernehmen. - Also Bericht über deutsche und
tschechische Premieren, Opern, Konzerte. Täglich in der Redaktion
lesen und ausschneiden, was in der Welt über Musik gedruckt wird u.s.f.
- Die Staatsstellung dauert fort dh. ich erhalte Urlaub. Gehalt wie bisher.
- Nachteile: Das Blatt wird von der deutschen wie tschechischen Presse
scheel angesehen. Chefredakteur Laurin. - Vorteil: Mein Referat ist aber
ganz unpolitisch, neutral, würde mich auch freuen - Nachteil: Ich
sitze aber doch in der Redaktion mit. Hauptnachteil: Das Bestehen des Blattes
ist nur auf 1 Jahr gesichert. Sogar sehr unsicher.-Und zu viel Arbeit (??).
2.) Ich soll wieder meine Stelle im Postdienst
antreten - jedoch zur Dienstleistung dem Ministerratspräsidium zugewiesen
werden. - Kolossale Vorteile für die zionistische Politik. Der erste
Zionist in Regierungsstellung, Gegengewicht gegen die vielen tschechischen
Juden im Unterrichtsministerium. - Meine Arbeit? Man verlangt gar nichts
Bestimmtes. Der Chef des Pressedepartments, der mir den Antrag machte,
sagte, ich solle nur das machen, was ich bisher ohnedies getan habe. Auf
tschechische Künstler in deutschen Blättern hinweisen, übersetzen
u.s.f. Keine Bürostunden. Völlige Freiheit. Völlig unpolitische
Tätigkeit. Kulturwerte fördern, auch deutsche. - Ich überreichte
ein kurzes Memorandum, um diese Punkte, denen ich wegen des unwahrscheinlichen
Glücksfalles mißtraute, zu fixieren. - Es wurde mit grenzenlosem
Respekt restlos angenommen. Mein Übernahmedekret soll Hinweis auf
diese Annahme enthalten. - Was sagt man da? - Steht wohl Masaryk
dahinter! (?) - Nachteil: Man wird es doch Preßpropaganda gegen die
Deutschen oder so nennen. Felix Weltsch meint, die Gewissensverantwortung
liegt auf jedem einzelnen Artikel, den ich schriebe. - Ich würde z.
B. über Bilek, Janáček, Suk
schreiben,-wenn ich tschechische Musiker bespreche, auch deutsche studieren
u.s.f. - Kann man dagegen etwas einwenden? - Gewissensfrage: Wofür
zahlt mich also die Regierung? Antwort, die ich selbst im Memorandum wörtlich
so gebe: "Das Wesen meiner neuen Stellung: - in dieser Richtung unverändert
weiterarbeiten, wobei mir durch diese Stellung mehr Zeit und Gelegenheit
zu solcher Tätigkeit geboten wird."
Du fühlst, dass es mir an schlaflosen
Nächten nicht fehlt. Kannst du mir raten? - Die Andeutungen sind zu
knapp? - Du merkst wohl aus der Stilisierung, dass ich No. 2 zuneige.
Adressiere deine Antwort an "Max Koschel,
Prag 1 postrestante".
Ich hätte noch sehr sehr viel zu berichten
z. B. über Dr Klatzkin, zu dem ich aber soeben
so hineile, dass ich schließen muß. - Korrekturen habe
ich nicht, beiliegend aber eine Probe. Retour!
Wieviel Gewichtszunahme??
Dein Max
NB Kannst du nicht einmal einen Ausflug nach Smokovec machen und dich dann
entscheiden?
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Ewer: Die im Dezember 1920 gegründete Buch- und Kunsthandlung "Ewer" (speziell für Judaica), eine Filiale der Berliner Firma (siehe 1920 Anm.44). Zeitweiliger Geschäftsführer war Siegmund Kaznelson.
Briefe von Dehmel: Veröffentlicht unter dem Titel "Dehmels Fahrten in die Alpen", Die neue Rundschau 1920 (Dezemberheft), S. 1376-1389.
Walder Nornepygge: Der Held von Brods frühem Roman Schloß Nornepygge (siehe 1908, Anm.6).
Mein Roman: "Rëubeni" (siehe 1920, Anm.43).
Langer: Siehe 1916 Anm.16.
Regierungsblatt: Die Prager Presse, das im März 1921 gegründete halboffizielle - deutschsprachige Organ der Regierung. Laurin: Arne Laurin (eigtl. Arnošt Lustig) (1891-1945), ein Bekannter Milenas, war zu diesem Zeitpunkt noch Chefredakteur der tschechisch-sprachigen Tribuna (siehe 1920 Anm.22).
Masaryk: Brod berichtet über seine langjährigen Beziehungen zum ersten Präsidenten des neuen tschechoslowakischen Staates in SL.
Bilek: Zum Bildhauer Frantisek Bílek (1872-1941) siehe Kafkas Briefe vom Spätjuli 1922 unten.
Suk: Zum Komponisten Josef Suk (1874-1935), der Brod auf Janáček hingewiesen hatte, siehe SL 256.
Dr Klatzkin: Jakob Klatzkin (1882-1948), hebräisch-philosophischer Schriftsteller und Begründer der Encyclopaedia Judaica, vertrat einen formalen jüdischen Nationalismus. Brod hatte ihn früher - in einem Brief an Martin Buber vom 10. Januar 1917 (BB I 458) - des Sadduzäertums bezichtigt und geschrieben: "Nicht Sprache, Staat u.s.f., wie der mir ganz unsympathische Klatzkin ... sagt, macht uns zu Juden" (er bezieht sich auf Klatzkins Aufsatz "Grundlagen des Nationaljudentums I: Irrwege des nationalen Instinkts", Der Jude I (1916-1917), S.534 ff.).
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |