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[Prag]

19.1 [1921]
 

Max Brod an Franz Kafka

Lieber Franz,

Aus deinem Brief ersehe ich, dass ich meine Beziehung zu Emmy, so heißt das Mädchen, doch sehr unvollständig dargestellt habe. Es hat sich auch seitdem geändert. Ich erhielt zwei sehr liebe Briefe. Der Feber ist auch nicht chimärisch, sondern am 3. Feber lese in München (Ewer) und am 4. Feber bin ich in Berlin. Du fragst, ob ich das Mädchen so ernst nehme wie die Beziehung zu ihr? Gewiß. Sie hat seither auf meine Anregung (freilich habe ich nur gedrängt, eine Dame half mit) ihre Stimme prüfen lassen und wird Gesang lernen. Ihr höchster Wunsch ist, den Beruf zu wechseln, Theater. Und sie hat recht, denn sie ist sehr musikalisch. Ich habe sie in ihrem Wunsch bestärkt, und, wenn ich nun in Berlin bin, hoffe ich, ihr auf manche Art zu nützen, zum Beispiel den Mann zu prüfen, der sie geprüft hat und bei dem sie eben Stunden zu nehmen beginnt. Auch finanzielle Hilfe u.s.f. Vielleicht gelingt es mir, etwas Entscheidendes in ihrem Leben zum Guten zu lenken, den Beruf. Es war rührend, wie sie klagte, sie dürfe auf ihrer Geige im Hotel nicht üben. Alle freien Abende verbringt sie in Konzerten u.s.f. - dass ich also für sie nicht mehr bedeute als irgendein "Gast", ist eine unrichtige Meinung von dir. Und sie für mich? Du schreibst: "Dieses Mädchen stand doch äußerlich ganz fern dem, was dich in Berlin bezaubert hat, alles, was du sonst erlebtest, mußte eigentlich das Mädchen hinabdrücken u.s.f." Ganz ganz falsch. Wie weit ist deine Ansicht von mir! Die Wahrheit lautet: Berlin begann mich genau in dem Augenblick zu bezaubern, in dem ich allein mit Emmy in einer "Diele" sitzend ihre Hand ergriff. Es ist eine fürchterliche Schwäche von mir, aber nachgerade muß ich mir sie eingestehen: Die Welt bedeutet mir nur durch das Medium einer Frau irgendetwas. Ohne das ist sie mir uninteressant, nichts als Verdruß und Stockung und Hindernis. - Diese auf die Frau eingestellte, ihr völlig verfallene Naturanlage hat mich nun ein Jahr lang auf dem untersten Niveau des Lebens, Vegetierens festgehalten. Mit Schaudern denke ich an das verflossene Jahr. Ob es besser werden wird, das, was jetzt beginnt? Gefahren sehe ich genug -aber besser als diese Wüste, die ich eben verlasse, ist alles. -Dabei lebe ich aber mit E. ausgezeichnet.

    Und nun dein Vergleich zwischen uns beiden. - Deine Idee, dass ich Unmögliches will, das Mögliche aber erreicht habe während du, Unmögliches wollend, nicht einmal das Mögliche erlangt hast. - Will ich Unmögliches? Insofern vielleicht, als Leben, reines Leben überhaupt etwas Unmögliches ist. Das stimmt. Das ist richtig. Aber meinst du es so? In der Liebe sehe ich nichts Unmöglicheres als im Atmen, bei dem man so und so viel Leben notwendig vernichtet u.s.f. Leben kann man nur kraft Wunders und mit der Liebe ist es genau so. Nur ist wohl im Lieben das Wunder möglicher, denn Liebe ist schon ein Grenzfall des Wunderbaren -, ein Confinium: würde Kierkegaard sagen. Warum du nun aber vor der Liebe eine spezielle Angst hast, mehr Angst als vor dem irdischen Dasein überhaupt, eine richtige "Todesangst" sogar, wie du schreibst, - das verstehe ich eben durchaus nicht. - Wenn du dich fürchtest, an das Unreine zu geraten, das in jeder körperlichen Existenzform, im Berufsleben, Geldverkehr, im geselligen Verkehr etc. liegt, das könnte ich verstehen. Warum aber vor der Liebe mehr Angst haben als z. B. vor der Freundschaft, die doch auch niemals das "Unmögliche" realisieren kann, jene völlige Hingabe und Hilfsbereitschaft und Verständnismöglichkeit gegen einander -und die du trotzdem lebst, weil sie sich eben in der Nähe, in der Sphäre dieses Ideals bewegt, es sprunghaft manchmal ergreift (kraft des Wunders) und so wenigstens intermittierend eine göttliche Angelegenheit wird. Mehr habe ich nie erlebt als "Intermittierend-Göttliches". In der Liebe habe ich es am ehesten, am häufigsten erlebt. Warum also vor ihr mehr Angst haben als vor anderen Angelegenheiten des Seins? Und wenn man die schönen Briefe von Dehmel (im letzten Heft der N. Rundschau) sieht, wächst zudem die Hoffnung in einem, man könnte über das "Inter-mittierende" auch wohl noch einmal höher hinauskommen, in den nächsten Rang . . .

    Was also ist es mit deiner Angst? Angst wovor? Das ist mir völlig unklar an dir. Angst vor Nichterreichen des Vollkommenen? Nein, denn dann könntest du ja auch nicht essen, nicht ins Büro gehen u.s.f. Also wovor diese Angst? -Vor Verpflichtungen, vor Konsequenzen? Aber in deinem Falle (Milena) schienen sie doch ausgeschlossen, zumindest vorläufig wurde nichts von dir verlangt. So schien es mir nach deinen Andeutungen, du hast mir ja nie viel darüber gesagt, namentlich in letzter Zeit nicht. - Vielleicht schreibst du doch einmal mir so, dass ich dich verstehe. Wie steht die Sache heute - und warum steht sie so? - Dann erst könnte ich den Vergleich zwischen uns beiden zu Ende führen. Heute scheint es mir, dass ich durchaus nichts Unmögliches beginne, - du aber dir das Mögliche ins Unmögliche wegeskamotierst - wobei ein gemeinsames Unmögliche, uns wie allen Menschen unmöglich, noch außerdem uns von allen Seiten, aber im Hintergrund, einschließt. -

    Es wäre ja sehr schlimm für mich, wenn du mit deiner Ansicht über mich recht hättest. Dann hätte ich eben vorübergehend ein Kompromiß geschlossen, mir eingebildet, dass ich mit dem Möglichen das Auslangen finden werde, - und nun sehe ich eben, dass ich mich gefoppt habe, - während du dieser Selbstfopperei von vornherein aus dem Weg gehst? - Du als Walder Nornepygge? - (der wegen seiner allzu gut funktionierenden Logik nicht zum Leben kommt). - Mit all dem ist nicht erklärt (ich bleibe dabei), warum du gerade in der Beziehung zur Frau "Angst" hast, nicht in allem Leben.

    Meine vielleicht allzu nüchterne Auffassung deines Zustandes ist: dass du infolge deiner Krankheit geschwächt ganz ähnlich wie kein Geräusch auch keine noch so zarte Beziehung zu einer Frau erträgst, selbst wenn diese Beziehung an sich für dich und für diese Frau sehr glückverheißend scheint. Denn eine gewisse Friktion muß ja in jeder Beziehung von Mensch zu Mensch sein, - zum Ertragen dieser Friktion, die nur im Moment des Wunders aussetzt, zur Überwindung also der wunderlosen Zeit gehört Kraft. Diese Kraft kannst du nur durch körperliche Gesundung erreichen. Dann wirst du vielleicht auch das Verhältnis zu M. in ganz anderem, leichterem Lichte sehen - und deshalb kann ich, soweit ich die Sache übersehe, nur dazu raten, einige Zeit so zu leben, als ob diese Beziehung gar nicht bestünde. Jedoch ohne festen Plan für das Weitere. Mit dem Vorbehalt also, nach einer gewissen Zeit diese Beziehung als völlig Neues auf dich nochmals einwirken zu lassen und die Wirkung an deiner hoffentlich indessen gewachsenen Resistenz zu prüfen.

    Verzeih, wenn ich dich mit Theorien füttere, die vielleicht nur meinem Mißverstehen der Situation entspringen. - Dafür sehe ich diesmal von Sanatorium-Ratschlägen ab. -Vielleicht komme ich gegen Ende Feber für 3 Tage zu dir? Natürlich nur, wenn es dir keine Ungelegenheit, Aufregung u.s.f. verursacht? Schreibe mir unumwunden. - Es ist überdies auch eine Geldfrage, denn ich werde vorher in Berlin viel ausgegeben haben.

    Ich würde auch gern eine Angelegenheit mit dir beraten, deren schriftliche Analyse fast unmöglich ist. - Mit der Literatur allein geht es bei mir nicht. In Berlin flüchten alle Dichter in feste Stellungen, Staatsdienst. "Fälscher" sind noch nirgends angenommen, trotz Königsberg. Es herrscht Bankrott der ernsten Literatur, man will nur Sensation, Tanz. (Hat man nicht Recht? Die sogenannte "anständige" Literatur ist zu ? langweilig oder outriert, - wie wenig ganz Großes gab es in der "Expressionismus"-Mode und nun hat das Publikum vom Schwindel genug und die wahren Werte hat es ja nie recht als solche verstanden, sondern sie giengen nur im Schwindel so mit.) Darüber könnte man stundenlang schreiben.

    Ich kann dir nicht all die literarischen Fehlschläge der letzten Zeit aufzählen. - Mein Roman wird-aber nur furchtbar langsam. - Ich lese jetzt jeden zweiten Tag mit Langer schöne Kabbal. Werke. Geschrieben habe ich noch keine Zeile. Mache mich auf ½ Jahr Studien gefaßt.

    So die Lage. - Nun werden mir gleichzeitig zwei Posten angeboten. Beide mit großen Vorteilen und Nachteilen.

    1.) Ich soll bei dem neuen Regierungsblatt das Musikreferat übernehmen. - Also Bericht über deutsche und tschechische Premieren, Opern, Konzerte. Täglich in der Redaktion lesen und ausschneiden, was in der Welt über Musik gedruckt wird u.s.f. - Die Staatsstellung dauert fort dh. ich erhalte Urlaub. Gehalt wie bisher. - Nachteile: Das Blatt wird von der deutschen wie tschechischen Presse scheel angesehen. Chefredakteur Laurin. - Vorteil: Mein Referat ist aber ganz unpolitisch, neutral, würde mich auch freuen - Nachteil: Ich sitze aber doch in der Redaktion mit. Hauptnachteil: Das Bestehen des Blattes ist nur auf 1 Jahr gesichert. Sogar sehr unsicher.-Und zu viel Arbeit (??).

    2.) Ich soll wieder meine Stelle im Postdienst antreten - jedoch zur Dienstleistung dem Ministerratspräsidium zugewiesen werden. - Kolossale Vorteile für die zionistische Politik. Der erste Zionist in Regierungsstellung, Gegengewicht gegen die vielen tschechischen Juden im Unterrichtsministerium. - Meine Arbeit? Man verlangt gar nichts Bestimmtes. Der Chef des Pressedepartments, der mir den Antrag machte, sagte, ich solle nur das machen, was ich bisher ohnedies getan habe. Auf tschechische Künstler in deutschen Blättern hinweisen, übersetzen u.s.f. Keine Bürostunden. Völlige Freiheit. Völlig unpolitische Tätigkeit. Kulturwerte fördern, auch deutsche. - Ich überreichte ein kurzes Memorandum, um diese Punkte, denen ich wegen des unwahrscheinlichen Glücksfalles mißtraute, zu fixieren. - Es wurde mit grenzenlosem Respekt restlos angenommen. Mein Übernahmedekret soll Hinweis auf diese Annahme enthalten. - Was sagt man da? - Steht wohl Masaryk dahinter! (?) - Nachteil: Man wird es doch Preßpropaganda gegen die Deutschen oder so nennen. Felix Weltsch meint, die Gewissensverantwortung liegt auf jedem einzelnen Artikel, den ich schriebe. - Ich würde z. B. über Bilek, Janáček, Suk schreiben,-wenn ich tschechische Musiker bespreche, auch deutsche studieren u.s.f. - Kann man dagegen etwas einwenden? - Gewissensfrage: Wofür zahlt mich also die Regierung? Antwort, die ich selbst im Memorandum wörtlich so gebe: "Das Wesen meiner neuen Stellung: - in dieser Richtung unverändert weiterarbeiten, wobei mir durch diese Stellung mehr Zeit und Gelegenheit zu solcher Tätigkeit geboten wird."

    Du fühlst, dass es mir an schlaflosen Nächten nicht fehlt. Kannst du mir raten? - Die Andeutungen sind zu knapp? - Du merkst wohl aus der Stilisierung, dass ich No. 2 zuneige.

    Adressiere deine Antwort an "Max Koschel, Prag 1 postrestante".

    Ich hätte noch sehr sehr viel zu berichten z. B. über Dr Klatzkin, zu dem ich aber soeben so hineile, dass ich schließen muß. - Korrekturen habe ich nicht, beiliegend aber eine Probe. Retour!

    Wieviel Gewichtszunahme??

Dein Max


NB Kannst du nicht einmal einen Ausflug nach Smokovec machen und dich dann entscheiden?



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Ewer: Die im Dezember 1920 gegründete Buch- und Kunsthandlung "Ewer" (speziell für Judaica), eine Filiale der Berliner Firma (siehe 1920 Anm.44). Zeitweiliger Geschäftsführer war Siegmund Kaznelson.


Briefe von Dehmel: Veröffentlicht unter dem Titel "Dehmels Fahrten in die Alpen", Die neue Rundschau 1920 (Dezemberheft), S. 1376-1389.


Walder Nornepygge: Der Held von Brods frühem Roman Schloß Nornepygge (siehe 1908, Anm.6).


Mein Roman: "Rëubeni" (siehe 1920, Anm.43).


Langer: Siehe 1916 Anm.16.


Regierungsblatt: Die Prager Presse, das im März 1921 gegründete halboffizielle - deutschsprachige Organ der Regierung. Laurin: Arne Laurin (eigtl. Arnošt Lustig) (1891-1945), ein Bekannter Milenas, war zu diesem Zeitpunkt noch Chefredakteur der tschechisch-sprachigen Tribuna (siehe 1920 Anm.22).


Masaryk: Brod berichtet über seine langjährigen Beziehungen zum ersten Präsidenten des neuen tschechoslowakischen Staates in SL.


Bilek: Zum Bildhauer Frantisek Bílek (1872-1941) siehe Kafkas Briefe vom Spätjuli 1922 unten.


Suk: Zum Komponisten Josef Suk (1874-1935), der Brod auf Janáček hingewiesen hatte, siehe SL 256.


Dr Klatzkin: Jakob Klatzkin (1882-1948), hebräisch-philosophischer Schriftsteller und Begründer der Encyclopaedia Judaica, vertrat einen formalen jüdischen Nationalismus. Brod hatte ihn früher - in einem Brief an Martin Buber vom 10. Januar 1917 (BB I 458) - des Sadduzäertums bezichtigt und geschrieben: "Nicht Sprache, Staat u.s.f., wie der mir ganz unsympathische Klatzkin ... sagt, macht uns zu Juden" (er bezieht sich auf Klatzkins Aufsatz "Grundlagen des Nationaljudentums I: Irrwege des nationalen Instinkts", Der Jude I (1916-1917), S.534 ff.).


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at