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[An Ottla Kafka]

[Meran, ca. 1. Mai 1920]
 


Meine liebste Ottla, ich glaube, dass das eine Verwechslung ist. Gewiß, er wird Dir durch seine Arbeit sehr entzogen, durch das Sokoltum, durch die Politik; von mir aus würde ich jedes auch nicht so gut begründete Fernbleiben gut verstehn (F. war zum erstenmal in Prag, ich hätte leicht Urlaub haben können, faulenzte aber lieber im Bureau, war nur Nachmittag bei ihr und erkannte eigentlich erst den Fehler, als sie viel später in Berlin mir ihn vorhielt, aber Lieblosigkeit war es nicht gewesen, Furcht vor dem Beisammensein vielleicht) von ihm aus verstehe ich es allerdings nicht ganz. Aber auf das alles kommt es glaube ich nicht so sehr an. Diese Arbeit und diese Interessen wären kein eigentliches Fernbleiben, wenn Du imstande wärest sie wenigstens teilweise auf Dich zu beziehn, sie wären dann für Dich geleistet, das Fernsein würde dann im Nahesein förmlich gerechtfertigt. Ich kann nur wieder ein F.-Beispiel vorbringen: sie wäre z. B. zweifellos imstande gewesen sich für die Arbeiterunfallversicherung auf das äußerste, mit Verstand und Herz zu interessieren, ja sie wartete wahrscheinlich ungeduldig auf die Einladung hiezu, auf ein flüchtiges Wort nur; als es ewig nicht kam, wurde sie freilich wüde, sie wollte immer tätig sein, suchte einen Weg, aber da war keiner. Aber hier ist es doch anders, ihn freut sein Beruf, er lebt unter seinem Volk, ist fröhlich und gesund, im Wesentlichen (auf das Nebenbei kommt es nicht an) mit Recht mit sich zufrieden, mit seinem großen Kreis zufrieden, mit Recht (es ist nicht anders auszudrücken, so wie eben ein Baum auch mit Recht in seinem Boden steht) und in ganz bestimmten Richtungen mit den andern unzufrieden - ich weiß nicht, es ist aber gewissermaßen fast das "Gut" das Du Dir seit langem wünschst, der feste Boden, der alte Besitz, die klare Luft, Freiheit. Alles das unter der Voraussetzung allerdings, dass Du es erwerben willst. Was Du so oft sagst vom: "er braucht mich nicht" "es geht ihm besser ohne mich" ist Spaß, ernst war dass Du gezögert hast. Das Zögern hast Du nun aufgegeben, ein Rest aber ist noch geblieben und der besteht im Trauern um seine mit Fremden - warum Fremden? - hingebrachte Zeit, besteht in dem Unnatürlichen - warum Unnatürlichen? - der Bureaubeleuchtung, von der Moldau aus gesehn. Gewiß es wäre möglich, dass er zwischen Sonntag und Donnerstag von sich hörenläßt und ich verstehe nicht, warum er es nicht tut, aber wichtiger ist das andere und gut dass er durch sein Verhalten, ohne Absicht allerdings, Dich darüber belehrt.

Ist es zu streng, was ich sage? Ich bin nicht streng zu Dir, Ottla, wie könnte ich streng zu Dir sein, da ich doch schon mir gegenüber windelweich bin. Eher bin ich heute ein wenig nervös, ich schlafe nicht gut, das hat natürlich auch die Gewichtszunahme schlecht beeinflußt, immerhin ist sie noch leidlich: 6. IV.: 57.40, 14. IV.: 58.70, 16. IV.:58.75, 24. IV.: 59.05, 28. IV.: 59.55 (beim letzten hatte ich durch ein vorher getrunkenes Glas Milch nachgeholfen) Dabei geht es mir in allen Einzelnheiten ausgezeichnet, nichts könnte eigentlich besser sein, nur der Schlaf zeigt, dass etwas fehlt, aber frag ihn, wenn er nicht da ist. Jedenfalls, Fleisch und Sanatorium könnten dem Schlaf eher schaden als nützen, beim Doktor aber war ich gestern, er findet meine Lunge ausgezeichnet d. h. er findet dort überhaupt fast nichts Störendes, gegen das Vegetarische hat er nichts, einige Ratschläge für das Essen hat er mir gegeben, gegen Schlaflosigkeit (es ist nicht Schlaflosigkeit, ich wache nur fortwährend auf) Baldrianthee, also Baldrianthee hat mir gefehlt. übrigens ein guter teilnehmender Arzt, Dr. Josef Kohn aus Prag.

Ich träumte heute von Dir, es war das obige Thema. Wir saßen zu dritt und er machte eine Bemerkung die mir, wie das im Traum so geht, außerordentlich gefallen hat. Er sagte nämlich nicht, dass das Interesse der Frau für die Arbeit und das Wesen des Mannes selbstverständlich oder erfahrungsgemäß sei sondern es "sei historich nachgewiesen". Ich antwortete, durch das Interesse für das Allgemeine der Frage von dem besondern Fall ganz abgelenkt: "Ebenso das Gegenteil".

Wege willst Du haben? Heute zwei, erstens die Schwimmschulkarte und zweitens bestell für Dich auf meine Rechnung bei Taussig Memoiren einer Sozialistin von Lilli Braun Verlag Langen, 2 Bände, gebunden. über einen dritten Weg, zum Direktor, schreibe ich Dir nächstens, ich werde nämlich vielleicht doch länger als 2 Monate bleiben, wenns mir weiter gut geht und der Schlaf besser wird.

Über die Wahlen habe ich nur wenig aus dem Večer erfahren, der hier im Einzelverkauf zu haben ist. Felixt schickt mir die Selbstwehr nicht, trotzdem ich ihn darum geben habe. Max fuhr nach München, wie ich von Dr. Kohn gehört habe, der ihn auf der Reise gesehen hat. Gibt es Familien- und Geschäftsneuigkeiten?

Leb wohl!

Dein Franz


Meinen letzten Brief hast Du inzwischen wohl bekommen?




Datierung erschlossen in Relation zu Nr. 79 und aufgrund der Zeitangaben im Kontext des Briefs selber.


das Sokoltum: Der Sokol, gegründet 1862 durch Miroslav Tyrš, war der erste tschechische Turnverein, eine Art Gegengründung zur "Deutschen Turnerschaft" von 1860. Hauptziel war neben der Körpererziehung die Entwicklung des nationalen Bewußtseins. Josef David, dem Kafkas Ausführungen gelten, war stolz darauf, in dieser Vereinigung Vorturner zu sein. Zum Verständnis der folgenden Passagen vgl. KB 536 ff.


F. war zum erstenmal in Prag: Felice Bauer besuchte Kafka vom 1.-5. Mai 1914 (vgl. F 570 und 769). Zu den späteren Vorhaltungen der Braut vgl. die Anmerkungen zu Nr. 20.


das "Gut": Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 41 und 71.


heute ein wenig nervös: wegen des kurz vorher begonnenen Briefwechsels mit der tschechischen Journalistin Milena Jesenská.


also Baldrianthee hat mir gefehlt: Zum Verständnis vgl. F 99 und Nr. 81.


Schwimmschulkarte: Ottla sollte zu Beginn der Badesaison ihrem Bruder eine Jahreskarte für die Zivilschwimmschule besorgen, zu deren Stammgästen Kafka von Jugend an gehörte. (Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 119 und M 201)


Memoiren einer Sozialistin: Lily Brauns Erinnerungen erschienen zuerst im Verlag Albert Langen in München (2 Bände, 1909/11). An Felice, der er das Werk schickte, schrieb er 1916: "Die Memoiren übrigens habe ich vor kurzem auch Max geschenkt und schenke sie nächstens Ottla, schenke sie nach rechts und links. Sie sind, soweit meine Kenntnis reicht, der zeitlich nächstliegende und sowohl sachlichste als lebendigste Zuspruch." (F 695) Zu den Einzelheiten vgl. F 638 und H. Binder, Franz Kafka und die Wochenschrift "Selbstwehr", in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41 (1967), Heft 2, S. 289 (Kafka hatte das Buch auch Minze Eisner geschenkt, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 74).


Večer: Führende Tageszeitung der tschechischen Agrarpartei. Wegen des literarisch anspruchsvollen Feuilletons fand das Blatt auch Leser in den Kreisen der Intelligenz.


Max fuhr nach München: zur Premiere seines Einakters Die Höhe des Gefühls. (Vgl. Br 272 und 511)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at