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[An Ottla Kafka]
Meine liebste Ottla, ich glaube, dass das eine Verwechslung ist. Gewiß,
er wird Dir durch seine Arbeit sehr entzogen, durch das Sokoltum,
durch die Politik; von mir aus würde ich jedes auch nicht so gut begründete
Fernbleiben gut verstehn (F. war zum erstenmal in Prag,
ich hätte leicht Urlaub haben können, faulenzte aber lieber im
Bureau, war nur Nachmittag bei ihr und erkannte eigentlich erst den Fehler,
als sie viel später in Berlin mir ihn vorhielt, aber Lieblosigkeit
war es nicht gewesen, Furcht vor dem Beisammensein vielleicht) von ihm
aus verstehe ich es allerdings nicht ganz. Aber auf das alles kommt es
glaube ich nicht so sehr an. Diese Arbeit und diese Interessen wären
kein eigentliches Fernbleiben, wenn Du imstande wärest sie wenigstens
teilweise auf Dich zu beziehn, sie wären dann für Dich geleistet,
das Fernsein würde dann im Nahesein förmlich gerechtfertigt.
Ich kann nur wieder ein F.-Beispiel vorbringen: sie wäre z. B. zweifellos
imstande gewesen sich für die Arbeiterunfallversicherung auf das äußerste,
mit Verstand und Herz zu interessieren, ja sie wartete wahrscheinlich ungeduldig
auf die Einladung hiezu, auf ein flüchtiges Wort nur; als es ewig
nicht kam, wurde sie freilich wüde, sie wollte immer tätig sein,
suchte einen Weg, aber da war keiner. Aber hier ist es doch anders, ihn
freut sein Beruf, er lebt unter seinem Volk, ist fröhlich und gesund,
im Wesentlichen (auf das Nebenbei kommt es nicht an) mit Recht mit sich
zufrieden, mit seinem großen Kreis zufrieden, mit Recht (es ist nicht
anders auszudrücken, so wie eben ein Baum auch mit Recht in seinem
Boden steht) und in ganz bestimmten Richtungen mit den andern unzufrieden
- ich weiß nicht, es ist aber gewissermaßen fast das
"Gut" das Du Dir seit langem wünschst, der feste Boden,
der alte Besitz, die klare Luft, Freiheit. Alles das unter der Voraussetzung
allerdings, dass Du es erwerben willst. Was Du so oft sagst vom: "er
braucht mich nicht" "es geht ihm besser ohne mich" ist
Spaß, ernst war dass Du gezögert hast. Das Zögern
hast Du nun aufgegeben, ein Rest aber ist noch geblieben und der besteht
im Trauern um seine mit Fremden - warum Fremden? - hingebrachte Zeit, besteht
in dem Unnatürlichen - warum Unnatürlichen? - der Bureaubeleuchtung,
von der Moldau aus gesehn. Gewiß es wäre möglich, dass
er zwischen Sonntag und Donnerstag von sich hörenläßt und
ich verstehe nicht, warum er es nicht tut, aber wichtiger ist das andere
und gut dass er durch sein Verhalten, ohne Absicht allerdings, Dich
darüber belehrt.
Ist es zu streng, was ich sage? Ich bin nicht streng zu Dir, Ottla, wie
könnte ich streng zu Dir sein, da ich doch schon mir gegenüber
windelweich bin. Eher bin ich heute ein wenig nervös,
ich schlafe nicht gut, das hat natürlich auch die Gewichtszunahme
schlecht beeinflußt, immerhin ist sie noch leidlich: 6. IV.: 57.40,
14. IV.: 58.70, 16. IV.:58.75, 24. IV.: 59.05, 28. IV.: 59.55 (beim letzten
hatte ich durch ein vorher getrunkenes Glas Milch nachgeholfen) Dabei geht
es mir in allen Einzelnheiten ausgezeichnet, nichts könnte eigentlich
besser sein, nur der Schlaf zeigt, dass etwas fehlt, aber frag ihn,
wenn er nicht da ist. Jedenfalls, Fleisch und Sanatorium könnten dem
Schlaf eher schaden als nützen, beim Doktor aber war ich gestern,
er findet meine Lunge ausgezeichnet d. h. er findet dort überhaupt
fast nichts Störendes, gegen das Vegetarische hat er nichts, einige
Ratschläge für das Essen hat er mir gegeben, gegen Schlaflosigkeit
(es ist nicht Schlaflosigkeit, ich wache nur fortwährend auf) Baldrianthee,
also Baldrianthee hat mir gefehlt. übrigens ein guter
teilnehmender Arzt, Dr. Josef Kohn aus Prag.
Ich träumte heute von Dir, es war das obige Thema. Wir saßen
zu dritt und er machte eine Bemerkung die mir, wie das im Traum so geht,
außerordentlich gefallen hat. Er sagte nämlich nicht, dass
das Interesse der Frau für die Arbeit und das Wesen des Mannes selbstverständlich
oder erfahrungsgemäß sei sondern es "sei historich nachgewiesen".
Ich antwortete, durch das Interesse für das Allgemeine der Frage von
dem besondern Fall ganz abgelenkt: "Ebenso das Gegenteil".
Wege willst Du haben? Heute zwei, erstens die Schwimmschulkarte
und zweitens bestell für Dich auf meine Rechnung bei Taussig Memoiren
einer Sozialistin von Lilli Braun Verlag Langen, 2 Bände, gebunden.
über einen dritten Weg, zum Direktor, schreibe ich Dir nächstens,
ich werde nämlich vielleicht doch länger als 2 Monate bleiben,
wenns mir weiter gut geht und der Schlaf besser wird.
Über die Wahlen habe ich nur wenig aus dem Večer
erfahren, der hier im Einzelverkauf zu haben ist. Felixt schickt mir die
Selbstwehr nicht, trotzdem ich ihn darum geben habe. Max fuhr
nach München, wie ich von Dr. Kohn gehört habe, der ihn auf
der Reise gesehen hat. Gibt es Familien- und Geschäftsneuigkeiten?
Leb wohl!
Dein Franz
Meinen letzten Brief hast Du inzwischen wohl bekommen?
Datierung erschlossen in Relation zu Nr. 79 und aufgrund der Zeitangaben
im Kontext des Briefs selber.
das Sokoltum: Der Sokol, gegründet 1862 durch
Miroslav Tyrš, war der erste tschechische Turnverein, eine Art Gegengründung
zur "Deutschen Turnerschaft" von 1860. Hauptziel war neben
der Körpererziehung die Entwicklung des nationalen Bewußtseins.
Josef David, dem Kafkas Ausführungen gelten, war stolz darauf, in
dieser Vereinigung Vorturner zu sein. Zum Verständnis der folgenden
Passagen vgl. KB 536 ff.
F. war zum erstenmal in Prag: Felice Bauer besuchte
Kafka vom 1.-5. Mai 1914 (vgl. F 570 und 769). Zu den späteren Vorhaltungen
der Braut vgl. die Anmerkungen zu Nr. 20.
das "Gut": Vgl. die Anmerkungen zu Nr.
41 und 71.
heute ein wenig nervös: wegen des kurz vorher
begonnenen Briefwechsels mit der tschechischen Journalistin Milena Jesenská.
also Baldrianthee hat mir gefehlt: Zum Verständnis
vgl. F 99 und Nr. 81.
Schwimmschulkarte: Ottla sollte zu Beginn der Badesaison
ihrem Bruder eine Jahreskarte für die Zivilschwimmschule besorgen,
zu deren Stammgästen Kafka von Jugend an gehörte. (Vgl. die Anmerkungen
zu Nr. 119 und M 201)
Memoiren einer Sozialistin: Lily Brauns Erinnerungen
erschienen zuerst im Verlag Albert Langen in München (2 Bände,
1909/11). An Felice, der er das Werk schickte, schrieb er 1916: "Die
Memoiren übrigens habe ich vor kurzem auch Max geschenkt und schenke
sie nächstens Ottla, schenke sie nach rechts und links. Sie sind,
soweit meine Kenntnis reicht, der zeitlich nächstliegende und sowohl
sachlichste als lebendigste Zuspruch." (F 695) Zu den Einzelheiten
vgl. F 638 und H. Binder, Franz Kafka und die Wochenschrift "Selbstwehr",
in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte
41 (1967), Heft 2, S. 289 (Kafka hatte das Buch auch Minze Eisner geschenkt,
vgl. die Anmerkungen zu Nr. 74).
Večer: Führende Tageszeitung der tschechischen
Agrarpartei. Wegen des literarisch anspruchsvollen Feuilletons fand das
Blatt auch Leser in den Kreisen der Intelligenz.
Max fuhr nach München: zur Premiere seines
Einakters Die Höhe des Gefühls. (Vgl. Br 272 und 511)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at