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[An Ottla Kafka]
[Briefkopf: Gasthof Emma, Meran, Pragserwildsee]
Liebe Ottla, müde vom Wohnungssuchen, es gibt soviele Wohnungen, die
Grundfrage ist: große Hotelpension (z. B. die wo ich jetzt recht
gut lebe, vegetarisch gut, nicht gerade sehr durchdacht, aber immerhin)
oder kleine Privatpension. Erstere hat den Nachteil dass sie teuerer
ist (ich weiß allerdings nicht wie viel es ausmachen wird, ich esse
nicht in Pension) vielleicht nicht so gute Liegemöglichkeit gibt,
wie die kleine Pension, auch wird man wohl in der kleinen persönlich
interessierter behandelt, worauf ein Vegetarianer vielleicht mehr angewiesen
ist, als ein anderer aber einen großen Vorteil hat sie, es sind die
großen freien Räume, das Zimmer selbst, der Speisesaal, die
Vorhalle, selbst wenn man Bekannte hat, ist man frei, unbedrückt,
die kleine Pension hat dagegen etwas von einer Familiengruft, nein das
ist falsch, etwas von einem Massengrab. Sei das Haus noch so gut instand
gehalten (ist es das nicht, auch solche sah ich, dann möchte man sich
leich hinsetzen und über die Vergänglichkeit weinen) es ist doch
notwendig eng, die Gäste sitzen aneinander, man schaut einander immerfort
in die Augen, es ist eben wie bei Stüdl, nur dass
allerdings Meran unvergleichlich freier, weiter, mannigfaltiger, großartiger,
luftreiner, sonnenstärker als Schelesen ist. Das ist also die Frage.
Was hältst Du z. B. von der Ottoburg, dem einzigen
brauchbaren Ergebnis des Nachmittags (desdritten Meraner, und des ersten
unverregneten Nachmittags) Preis 15 Lire, der gewöhnliche Preis der
Privatpensionen, reines Haus, die Wirtin eine fröhliche sehr dick-
und rotbackige Frau des Buchhändlers Taussig, erkennt
sofort mein Prager Deutsch, interessiert sich sehr für meinen Vegetarianismus,
zeigt dabei aber völligen Mangel vegetarischer Phantasie; das Zimmer
ist recht gut, der Balkon gestattet alle Nacktheit, dann führt sie
mich in den gemeinsamen Speisesaal, ein hübscher Saal, aber doch niedrig,
so sitzt man beisammen, die gebrauchten Servietten in den Ringen bezeichnen
die Plätze, Schneewittchen hätte keine Lust gehabt, hier Späße
zu machen. Nun? Ehe Deine Antwort kommt dürfte ich mich schon entschieden
haben, versprochen habe ich, dass ich morgen vormittag schon komme.
Die Reise war sehr einfach, der Südamerikaner war nur ein Mailänder,
aber dafür ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller, schöner,
eleganter, im Körper eleganter Mensch, ich hätte nicht besser
wählen können und man kann gewiß für dieses im Grunde
abscheuliche enge Beisammensein, es war auch sehr kalt, gelegentlich sehr
schlecht wählen. Die Francs habe ich nicht gebraucht, es werden offenbar
wenn sich die Reisenden an ein bestimmtes System gewöhnt haben, sofort
neue Systeme eingeführt, die weitere Karte war in österr. Kronen
zu zahlen; wieviel kostet die Karte von der Grenze bis Innsbruck? An 1300
K, soviel hatte ich allerdings nicht. Die Lire waren in Innsbruck ganz
leicht zu wechseln.
Vorläufig genug, ich muß noch (nach meiner Vorschrift) Orangenlimonade
trinken gehn. Schreibe mir ausführlich von Dir, besonders von Sorgen,
wenn Du willst auch Träumen, in die Ferne hat auch das Sinn. Grüße
alle, auch Max oder Felix, wenn Du sie sehen solltest.
Dein F
wie bei Stüdl: Vgl. die Anmerkungen zu Nr.
70.
von der Ottoburg: Kafka, der wegen seines sich nicht
bessernden Lungenleidens Anfang April nach Meran zur Kur gefahren war,
blieb in dieser Pension bis zum 28. Juni. Eine Abb. in K 90.
Frau des Buchhändlers Taussig: hier natürlich
metaphorisch gemeint, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 17.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at