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An Milena Jesenská

[Prag, November 1920]
 


Heute ist Donnerstag. Bis Dienstag war ich aufrichtig entschlossen nach Grimmmstein zu fahren. Ich fühlte zwar manchmal wenn ich daran dachte eine innerliche Drohung, merkte auch, dass das Hinauszögern der Reise zum Teil seinen Grund darin hatte, glaubte aber das Ganze leicht überwinden zu können. Dienstag mittag hörte ich von jemandem, dass es nicht nötig ist, die Aufenthaltsbewilligung in Prag abzuwarten, sondern dass man sie in Wien sehr wahrscheinlich bekommt. Damit war also der Weg frei. Ich quälte mich nun einen Nachmittag lang auf dem Kanapee, abend schrieb ich Dir einen Brief, schickte ihn aber nicht weg, noch glaubte ich es überwinden zu können, aber die ganze schlaflose Nacht wand ich mich geradezu unter Qualen. Die zwei in mir; der welcher fahren will und der welcher sich zu fahren fürchtet, beide nur Teile von mir, beide wahrscheinlich Lumpen, kämpften in mir. Ich stand früh auf wie zu meinen ärgsten Zeiten.

Ich habe nicht die Kraft zu fahren; die Vorstellung, dass ich vor Dir stünde, kann ich im voraus nicht ertragen, den Druck im Gehirn ertrage ich nicht.

Schon Dein Brief ist unaufhaltbare, grenzenlose Enttäuschung durch mich, nun noch dies. Du schreibst, Du habest keine Hoffnung, aber Du hast die Hoffnung, vollständig von mir gehn zu können.

Ich kann Dir und niemandem begreiflich machen, wie es in mir ist. Wie könnte ich begreiflich machen, warum es so ist; das kann ich nicht einmal mir selbst begreiflich machen. Aber das ist auch nicht die Hauptsache, die Hauptsache ist klar: im Umkreis um mich ist es unmöglich menschlich zu leben; Du siehst es, und willst es noch nicht glauben?


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at