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An Milena Jesenská
Es ist bei mir auch so. Oft denke ich: das muß ich Dir schreiben,
aber dann kann ich es Dir doch nicht schreiben. Vielleicht hält der
Feldwebel Perkins meine Hand und nur wenn er sie einmal
für einen Augenblick losläßt, kann ich schnell im Geheimen
ein Wort hinschreiben.
Es deutet doch auf eine Geschmacksähnlichkeit hin, dass Du gerade
diese Stelle übersetzt hast. Ja, das Foltern ist mir äußerst
wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden
und Foltern. Warum? Aus einem ähnlichen Grund wie Perkins und ähnlich
unüberlegt, mechanisch und traditionsgemäß; nämlich
um aus dem verdammten Mund das verdammte Wort zu erfahren. Die Dummheit
die darin liegt (Erkenntnis der Dummheit hilft nichts) habe ich einmal
so ausgedrückt: "Das Tier entwindet dem Herrn die
Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht,
dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten
im Peitschenriemen des Herrn. "
Natürlich, auch kläglich ist das Foltern. Alexander hat den gordischen
Knoten, als er sich nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert.
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Übrigens scheint da auch eine jüdische Tradition vorzuliegen.
Der "Venkov" der jetzt sehr viel gegen die
Juden schreibt, hat letzthin in einem Leitartikel nachgewiesen, dass
die Juden alles verderben und zersetzen, sogar! [. . .] [ca. 4 Wörter
unleserlich gemacht] den Flagellantismus im Mittelalter hätten
sie verdorben. Leider war darüber nichts näheres gesagt, nur
ein englisches Werk war citiert. Ich bin zu "schwer" um in
die Universitätsbibliothek zu gehn, aber gerne wüßte ich
was die Juden mit der ihnen doch (im Mittelalter) ganz fernliegenden Bewegung
zu tun gehabt haben sollen. Vielleicht hast Du einen gelehrten Bekannten
der es weiß.
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Die Bücher habe ich Dir geschickt. Ich erkläre ausdrücklich
dass ich mich nicht ärgere, dass es vielmehr das einzige
ein wenig vernünftige ist, was ich seit langer Zeit mache. Aleš
ist vergriffen, erscheint wieder erst um Weihnachten, statt dessen nahm
ich Tschechow. Babička ist allerdings fast unlesbar
gedruckt, vielleicht hättest Du es gar nicht gekauft, wenn Du es gesehn
hättest. Ich aber hatte den Auftrag.
Das gereimte Orthographiebuch ist nur vorläufig für Deine Not
geschickt, ich bekomme erst Auskunft über ein gutes Orthographie-
und Diktatbuch.
Den Brief, in dem ich die Verzögerung der Annonce erklärt
habe, hast Du doch bekommen?
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Hast Du etwas näheres über den Sanatoriumsbrand gelesen? Jedenfalls
wird jetzt Grimmenstein überfüllt und hochmütig werden.
Wie kann mich H. dort besuchen? Du schriebst doch, dass er in Meran
ist.
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Dein Wunsch, ich solle nicht mit Deinem Mann zusammenkommen, kann unmöglich
stärker sein als der meine. Falls er aber nicht geradezu zu mir kommt
das wird er doch wohl nicht tun - ist es fast ausgeschlossen, dass
wir einander begegnen.
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Die Reise verzögert sich noch ein wenig, weil ich im Bureau zu tun
habe. Du siehst, ich schäme mich nicht hinzuschreiben, dass ich
"zu tun habe". Natürlich, es könnte eine Arbeit sein,
wie jede andere; bei mir ist es ein Halbschlaf, so nahe dem Tod, wie der
Schlaf ihm nahe ist. Der "Venkov" hat sehr recht. Auswandern,
Milena, auswandern!
1] Feldwebel Perkins: Eine Figur in Upton Sinclairs
Roman "Jimmy Higgins"; Milena hatte eine Probe daraus in tschechischer
Übersetzung veröffentlicht in der Wochenschrift "Kmen",
IV.Jg., Nr.15 (24.Juni 1920), S.169-173, und Nr. 16 (1. Juli 1920), S.
183-187.
2] "Das Tier entwindet... ": Vgl. "Hochzeitsvorbereitungen",
S. 42, 84 und 359.
3] "Venkov": Ein antijüdischer
Aufsatz von Josef Říha in dem völkisch ausgerichteten
Blatt der Agrarierbewegung unter dem Titel "Bolšcvismus bez
budoucnosti" [Bolschewismus ohne Zukunft], in "Venkov",
XV Jg., Nr. 234 (3. Oktober 1920), S. 1.
4] Aleš: Mikolás Aleš (1852-1913),
tschechischer Maler, Schüler von Josef Mánes.
5] Babička: Der berühmte Roman der Erzählerin
Božena Němcová. Vgl. Brief vom [29. Mai 1920], Anm. 2.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at