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An Milena Jesenská

[Prag, Mitte November 1920]
 


Es ist bei mir auch so. Oft denke ich: das muß ich Dir schreiben, aber dann kann ich es Dir doch nicht schreiben. Vielleicht hält der Feldwebel Perkins meine Hand und nur wenn er sie einmal für einen Augenblick losläßt, kann ich schnell im Geheimen ein Wort hinschreiben.

Es deutet doch auf eine Geschmacksähnlichkeit hin, dass Du gerade diese Stelle übersetzt hast. Ja, das Foltern ist mir äußerst wichtig, ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und Foltern. Warum? Aus einem ähnlichen Grund wie Perkins und ähnlich unüberlegt, mechanisch und traditionsgemäß; nämlich um aus dem verdammten Mund das verdammte Wort zu erfahren. Die Dummheit die darin liegt (Erkenntnis der Dummheit hilft nichts) habe ich einmal so ausgedrückt: "Das Tier entwindet dem Herrn die Peitsche und peitscht sich selbst, um Herr zu werden, und weiß nicht, dass das nur eine Phantasie ist, erzeugt durch einen neuen Knoten im Peitschenriemen des Herrn. "

Natürlich, auch kläglich ist das Foltern. Alexander hat den gordischen Knoten, als er sich nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert.


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Übrigens scheint da auch eine jüdische Tradition vorzuliegen. Der "Venkov" der jetzt sehr viel gegen die Juden schreibt, hat letzthin in einem Leitartikel nachgewiesen, dass die Juden alles verderben und zersetzen, sogar! [. . .] [ca. 4 Wörter unleserlich gemacht] den Flagellantismus im Mittelalter hätten sie verdorben. Leider war darüber nichts näheres gesagt, nur ein englisches Werk war citiert. Ich bin zu "schwer" um in die Universitätsbibliothek zu gehn, aber gerne wüßte ich was die Juden mit der ihnen doch (im Mittelalter) ganz fernliegenden Bewegung zu tun gehabt haben sollen. Vielleicht hast Du einen gelehrten Bekannten der es weiß.


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Die Bücher habe ich Dir geschickt. Ich erkläre ausdrücklich dass ich mich nicht ärgere, dass es vielmehr das einzige ein wenig vernünftige ist, was ich seit langer Zeit mache. Aleš ist vergriffen, erscheint wieder erst um Weihnachten, statt dessen nahm ich Tschechow. Babička ist allerdings fast unlesbar gedruckt, vielleicht hättest Du es gar nicht gekauft, wenn Du es gesehn hättest. Ich aber hatte den Auftrag.

Das gereimte Orthographiebuch ist nur vorläufig für Deine Not geschickt, ich bekomme erst Auskunft über ein gutes Orthographie- und Diktatbuch.

Den Brief, in dem ich die Verzögerung der Annonce erklärt habe, hast Du doch bekommen?


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Hast Du etwas näheres über den Sanatoriumsbrand gelesen? Jedenfalls wird jetzt Grimmenstein überfüllt und hochmütig werden. Wie kann mich H. dort besuchen? Du schriebst doch, dass er in Meran ist.


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Dein Wunsch, ich solle nicht mit Deinem Mann zusammenkommen, kann unmöglich stärker sein als der meine. Falls er aber nicht geradezu zu mir kommt das wird er doch wohl nicht tun - ist es fast ausgeschlossen, dass wir einander begegnen.


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Die Reise verzögert sich noch ein wenig, weil ich im Bureau zu tun habe. Du siehst, ich schäme mich nicht hinzuschreiben, dass ich "zu tun habe". Natürlich, es könnte eine Arbeit sein, wie jede andere; bei mir ist es ein Halbschlaf, so nahe dem Tod, wie der Schlaf ihm nahe ist. Der "Venkov" hat sehr recht. Auswandern, Milena, auswandern!




1] Feldwebel Perkins: Eine Figur in Upton Sinclairs Roman "Jimmy Higgins"; Milena hatte eine Probe daraus in tschechischer Übersetzung veröffentlicht in der Wochenschrift "Kmen", IV.Jg., Nr.15 (24.Juni 1920), S.169-173, und Nr. 16 (1. Juli 1920), S. 183-187.


2] "Das Tier entwindet... ": Vgl. "Hochzeitsvorbereitungen", S. 42, 84 und 359.


3] "Venkov": Ein antijüdischer Aufsatz von Josef Říha in dem völkisch ausgerichteten Blatt der Agrarierbewegung unter dem Titel "Bolšcvismus bez budoucnosti" [Bolschewismus ohne Zukunft], in "Venkov", XV Jg., Nr. 234 (3. Oktober 1920), S. 1.


4] Aleš: Mikolás Aleš (1852-1913), tschechischer Maler, Schüler von Josef Mánes.


5] Babička: Der berühmte Roman der Erzählerin Božena Němcová. Vgl. Brief vom [29. Mai 1920], Anm. 2.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at