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An Milena Jesenská

[Prag, Mitte November 1920]
 


Milena, verzeih, ich habe letzthin vielleicht zu abgekürzt geschrieben, gereizt durch die (wie sich jetzt herausgestellt hat gar nicht geschehene) Vorausbestellung des Zimmers. Ich will doch nach Grimmenstein fahren, aber es sind noch kleine Verzögerungen da, die ein durchschnittlich kräftiger Mensch (allerdings würde er nicht nach Grimmenstein fahren) längst beseitigt hätte, ich aber eben nicht. Auch habe ich jetzt erfahren, dass ich entgegen der Behauptung des Sanatoriums eine Aufenthaltserlaubnis der Landesregierung haben muß, die ja wahrscheinlich gegeben werden wird, aber jedenfalls nicht solange ich nicht das Gesuch weggeschickt habe.

Die ganzen Nachmittage bin ich jetzt auf den Gassen und bade im Judenhaß. "Prašivá plemeno" ["Räudige Rasse"] habe ich jetzt einmal die Juden nennen hören. Ist es nicht das Selbstverständliche, dass man von dort weggeht, wo man so gehaßt wird (Zionismus oder Volksgefühl ist dafür gar nicht nötig)? Das Heldentum, das darin besteht doch zu bleiben, ist jenes der Schaben, die auch nicht aus dem Badezimmer auszurotten sind.

Gerade habe ich aus dem Fenster geschaut: berittene Polizei, zum Bajonettangriff bereite Gendarmerie, schreiende auseinanderlaufende Menge und hier oben im Fenster die widerliche Schande, immerfort unter Schutz zu leben.


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Das stand schon ein Weilchen da, ich kam aber nicht zum Wegschicken, so war ich in mich eingeschlossen, auch kenne ich für Dein Nichtschreiben immer nur einen Grund.

Das Gesuch an die Landesregierung habe ich schon weggeschickt; wenn die Bewilligung kommt, geht dann das übrige (Zimmerbestellung und Paß) schnell und ich komme dann. Meine Schwester will nach Wien mitfahren, vielleicht fährt sie mit, sie will ein, zwei Tage in Wien bleiben um noch schnell mit einer kleinen Reise ihrem Kind zuvorzukommen, das schon im vierten Monat ist.

Ehrenstein, nun, nach dem was er Dir geschrieben hat, hat er einen bessern Blick als ich dachte. Daraufhin möchte ich gerne den Eindruck, den ich von ihm hatte, revidieren, aber da ich ihn nicht mehr sehen kann, geht es nicht. Ich fühlte mich - es war allerdings nicht viel mehr als eine Viertelstunde - sehr wohl bei ihm, gar nicht fremd, allerdings auch in keiner höheren Heimat, es war das Wohlbefinden und Nichtfremdsein, das ich etwa als Schüler bei meinem Nebensitzenden fühlte. Ich war ihm gut, er war mir unentbehrlich, für alle Schrecken der Schule waren wir verbündet, ich verstellte mich vor ihm weniger als vor irgendjemandem- aber was für eine klägliche Verbindung war es im Grunde. Ähnlich bei Ehrenstein, ein Herübergreifen von Kräften fühlte ich nicht. Er meint es sehr gut und spricht gut und strengt sich sehr an, aber wenn an jeder Straßenecke ein solcher Zusprecher stünde, sie würden doch den jüngsten Tag nicht beschleunigen, aber die gegenwärtigen Tage unerträglicher machen. Kennst Du "Tanja", das Gespräch zwischen dem Popen und Tanja? Es ist, allerdings gegen die eigene Absicht, ein Muster solcher hilfloser Hilfe. Tanja stirbt sichtbar unter diesem Albdruck von Trost.

In sich ist ja Ehrenstein gewiß sehr stark; was er abend vorlas war ungemein schön (allerdings wieder mit Ausnahme gewisser Stellen im Krausbuch). Und wie gesagt auch einen guten Blick hat er. Übrigens ist Ehrenstein fast dick, jedenfalls massiv geworden (auch geradezu schön; dass Du das verkennen kannst!) und weiß von den Magern nicht viel mehr als dass sie mager sind. Bei den meisten genügt diese Kenntnis allerdings, z. B. für mich.


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Die Zeitschriften haben sich verspätet, ich sage Dir gelegentlich den Grund, sie kommen aber.


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Nein Milena, die gemeinsame Möglichkeit, die wir in Wien zu haben glaubten, haben wir nicht, keinesfalls, wir hatten sie auch damals nicht, ich hatte "über meinen Zaun" geschaut, hatte mich oben nur mit den Händen festgehalten, dann bin ich mit zerschundenen Händen wieder zurückgefallen. Gewiß gibt es noch andere gemeinsame Möglichkeiten, die Welt ist voll Möglichkeiten, aber ich kenne sie noch nicht.




1] Judenhaß: Antisemitische Ausschreitungen vom 16.-19. November, die sich vor allem gegen deutsch-jüdische Bürger und Einrichtungen Prags richteten. Vgl. "Von Dienstag bis Freitag / Die Prager Ereignisse", in: "Pragcr Tagblatt", 45.Jg., Nr. 270 (20. 11. 1920), S. 1 f.


2] Meine Schwester: Ottla (verh. Davidová).


3] "Tanja": Ernst Weiß, "Tanja", Drama in drei Akten. (Erschien in der Zeitschrift "Der neue Daimon", Wien/ Leipzig, 2 (1919), S. 65-112), III. Akt; uraufgeführt wurde das Drama am 11. Oktober 1919 in den Kammerspielen des Deutschen Landestheaters Prag, in der Inszenierung von Hans Demetz, mit Rahel Sanzara in der Titelrolle.


4] Ehrenstein: Kafkas Bekannter, der Lyriker und Erzähler Albert Ehrenstein (1886-1950), las am Abend des 8. November 1920 im Mozarteum unter anderem aus seiner polemischen Schrift über Karl Kraus. Vgl. "Prager Tagblatt" 45.Jg., Nr. 262 (7. 11. 1920), S. 7. Im Druck erschienen war Ehrensteins Schrift "Karl Kraus" (Wien/ Leipzig: Genossenschaftsverlag, 1920) bereits Ende August 1920.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at