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An Milena Jesenská
Milena, ich bekam diesen für Vlasta bestimmten Brief. Eine Verwechslung
vielleicht, ein kleines Unglück, offenbar zu dem Zweck, dass
alle Möglichkeiten ausgenützt werden und ich Dich auch noch auf
diese Weise quäle. Zuerst wollte ich schnell den Brief Vlasta geben,
aber das wäre doch außerordentlich dumm gewesen, denn daraus
hätte sie ja, wenn es so sein sollte, erkannt, dass sie meinen
Brief hat. Immerhin war es außerordentlich klug, dass ich es
nicht getan habe oder doch nicht gar so klug, denn zunächst hat mich
nur die Umständlichkeit der Sache davon abgehalten. Nun, das ganze
ist ja nicht sehr schlimm und in meiner Schuldrechnung nur ein kleiner
Posten.
Den beiliegenden Brief von Illový bekam ich heute
Freitag, an und für sich ist es sehr belanglos, aber doch in gewissem
Sinn eine kleine Einmischung in unsere Angelegenheiten und deshalb hätte
ich es verhindert, wenn ich es früher erfahren hätte (Illový,
ein übertrieben bescheidener, stiller Mensch- "i ten malý
Illový" ["sogar der kleine Illový"] stand
letzthin im Červen - als die Juden der Rechtspartei
aufgezählt wurden - war mein Mitschüler in paar Gymnasialklassen,
seit vielen Jahren habe ich nicht mit ihm gesprochen und dieses ist der
erste Brief, den ich jemals von ihm bekommen habe).
Nun ist es schon fast gewiß, dass ich fahre. Der Husten und
die Atemnot zwingen mich dazu. Ich werde auch gewiß in Wien bleiben
und wir werden einander sehn.
1] Illový: Rudolf Illový (1881-1943),
Redakteur, Lyriker und Herausgeber der Anthologie "Československá
Poesie Sociální" (Prag, 1925), in der u. a. Gedichte
von Růžena jesenská, S. K. Neumann, Josef Reiner und von
Rudolf Illový selbst abgedruckt sind.
2] Červen: In einem Beitrag im 3. Jg., Nr.
29 (30. September 1920) dieser Zeitschrift.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at