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An Milena Jesenská

[Prag, 22. Oktober 1920]
 


Milena, ich bekam diesen für Vlasta bestimmten Brief. Eine Verwechslung vielleicht, ein kleines Unglück, offenbar zu dem Zweck, dass alle Möglichkeiten ausgenützt werden und ich Dich auch noch auf diese Weise quäle. Zuerst wollte ich schnell den Brief Vlasta geben, aber das wäre doch außerordentlich dumm gewesen, denn daraus hätte sie ja, wenn es so sein sollte, erkannt, dass sie meinen Brief hat. Immerhin war es außerordentlich klug, dass ich es nicht getan habe oder doch nicht gar so klug, denn zunächst hat mich nur die Umständlichkeit der Sache davon abgehalten. Nun, das ganze ist ja nicht sehr schlimm und in meiner Schuldrechnung nur ein kleiner Posten.

Den beiliegenden Brief von Illový bekam ich heute Freitag, an und für sich ist es sehr belanglos, aber doch in gewissem Sinn eine kleine Einmischung in unsere Angelegenheiten und deshalb hätte ich es verhindert, wenn ich es früher erfahren hätte (Illový, ein übertrieben bescheidener, stiller Mensch- "i ten malý Illový" ["sogar der kleine Illový"] stand letzthin im Červen - als die Juden der Rechtspartei aufgezählt wurden - war mein Mitschüler in paar Gymnasialklassen, seit vielen Jahren habe ich nicht mit ihm gesprochen und dieses ist der erste Brief, den ich jemals von ihm bekommen habe).

Nun ist es schon fast gewiß, dass ich fahre. Der Husten und die Atemnot zwingen mich dazu. Ich werde auch gewiß in Wien bleiben und wir werden einander sehn.




1] Illový: Rudolf Illový (1881-1943), Redakteur, Lyriker und Herausgeber der Anthologie "Československá Poesie Sociální" (Prag, 1925), in der u. a. Gedichte von Růžena jesenská, S. K. Neumann, Josef Reiner und von Rudolf Illový selbst abgedruckt sind.


2] Červen: In einem Beitrag im 3. Jg., Nr. 29 (30. September 1920) dieser Zeitschrift.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at