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An Milena Jesenská

[Prag, September 1920]
 


Du hast also Grippe gehabt? Nun ich muß mir wenigstens keine Vorwürfe machen, die Zeit hier besonders lustig verbracht zu haben. (Manchmal verstehe ich nicht wie die Menschen den Begriff "Lustigkeit" gefunden haben, wahrscheinlich hat man ihn als Gegensatz der Traurigkeit nur errechnet.)

Ich war überzeugt, dass Du mir nicht mehr schreiben wirst, aber darüber war ich weder erstaunt noch traurig. Nicht traurig, weil es mir über alle Traurigkeit hinaus notwendig schien und weil es wahrscheinlich in der ganzen Welt nicht genug Gewichte gibt um mein armes kleines Gewicht hochzuheben, und nicht erstaunt, weil ich eigentlich niemals früher erstaunt gewesen wäre, wenn Du gesagt hättest: "Bis jetzt bin ich freundlich zu Dir gewesen, jetzt aber höre ich auf und gehe fort." Es gibt nur erstaunliche Sachen, das aber wäre eine der wenigst erstaunlichen gewesen; wie viel erstaunlicher ist es z. B. dass man jeden Morgen aufsteht. Doch ist das dann keine Zuversicht gebende Überraschung sondern eine unter Umständen Ekel erregende Kuriosität.

Ob Du ein gutes Wort verdienst Milena? Offenbar verdiene ich nicht, es Dir zu sagen, sonst könnte ich es.

Wir werden uns früher sehn, als ich glaube? (Nun schreibe ich "sehn", Du schreibst "zusammenleben".) Ich glaube aber (und sehe es überall bestätigt, überall, an Dingen, die gar nicht damit zusammenhängen, alle Dinge sprechen davon) dass wir niemals zusammenleben werden und können, und "frühem als "niemals" ist doch wieder nur niemals.

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Grimmenstein ist eben doch sonst besser. Der Preisunterschied ist wohl an 50 K täglich, außerdem muß man in das andere Sanatorium alles für die Liegekur mitbringen (Fußpelz, Kopfpolster, Decken u.s.w., ich habe nichts davon) in Grimmenstein bekommt man es geborgt, im "Wiener Wald" muß man eine große Kaution erlegen, in Grimmenstein nicht, auch liegt Grimmenstein höher udgl. Übrigens fahre ich ja noch nicht. Eine Woche lang war mir zwar genug schlecht (ein wenig Fieber und solche Atemnot, dass ich mich fürchtete vom Tisch aufzustehn, auch viel Husten) aber das scheint nur die Folge eines großen Spaziergangs gewesen zu sein, auf dem ich ein wenig gesprochen hatte, jetzt ist es viel besser, so dass das Sanatorium wieder nebensächlicher geworden ist.

Jetzt habe ich die Prospekte hier: Im Wiener Wald bekommt man ein Südzimmer mit Balkon erst von 380 K- an, in Grimmenstein kostet das teuerste Zimmer K 360. Der Unterschied ist zu groß, so widerlich teuer beides ist. Nun, die Möglichkeit von Injektionen will bezahlt sein, die Injektionen selbst sind dann eigens zu zahlen. Aufs Land würde ich gerne fahren, noch lieber in Prag bleiben und ein Handwerk lernen, am wenigsten gern fahre ich in ein Sanatorium. Was soll ich dort? Vom Chefarzt zwischen die Knie genommen werden und an den Fleischklumpen würgen, die er mir mit den Karbolfingern in den Mund stopft und dann entlang der Gurgel hinunterdrückt.

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Nun war ich jetzt auch beim Direktor, er hat mich rufen lassen, Ottla war nämlich gegen meinen Willen vorige Woche bei ihm, gegen meinen Willen bin ich vom Anstaltsarzt untersucht worden, gegen meinen Willen werde ich Urlaub bekommen.

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Kupec ist ohne Fehler. Offenbar vermutest Du dort Fehler, weil Du Dir nicht vorstellen kannst, dass der deutsche Text wirklich so hilflos schlecht ist wie er vor Dir liegt. Er ist aber genau so schlecht, wie er vor Dir liegt.

Nur damit Du siehst, dass ich es auf Fehler hin gelesen habe: statt bolí uvnitř v čele a v spáncích-uvnitř na . . . oder ähnlich - es ist nämlich daran gedacht, dass so wie Krallen außen an der Stirn arbeiten können, dies auch von innen geschehn kann potírajíce se heißt durcheinandergehn? einander durchkreuzen? - gleich danach statt volná místo vielleicht besser náměsti - pronássledujte jen ich weiß nicht, ob "nur" hier "jen" ist, dieses "nur" ist nämlich nur ein Prager jüdisches nur, bedeutet eine Aufforderung, etwa "ihr könnt es ruhig machen" - die Schlußworte sind nicht wörtlich übersetzt. Du trennst das Dienstmädchen und den Mann während sie im Deutschen in einander übergehn.

Bubácká dopisy - Du hast recht. Aber es sind wirkliche, sie haben nicht bloß Leintücher an.




1]Kupec: Kafkas Prosastück "Der Kaufmann", das - zusammen mit fünf anderen Stücken aus dem Band "Betrachtung" - in der Nr. 26 des "Kmen" erschienen war. Vgl. 3. Brief von [September 1920], Anm. 2.


2] bolí uvnitř v čele a v spáncích-uvnitř na . . . : innen in Stirn und Schläfen schmerzt - innen an . . . (bezieht sich auf die betreffende Stelle im ersten Absatz der Betrachtung "Der Kaufmann")


3] potírajíce se: einander bekämpfend (bezieht sich auf "durcheinander gehn" im fünftletzten Absatz von "Der Kaufmann")


4] volná místo: freie Stelle


5] náměsti : Platz (im konkreten, städtebaulichen Sinne) ( Anm. 4] und 5] beziehen sich auf den "freien Platz" im fünftletzten Absatz von "Der Kaufmanna]


6] pronássledujte jen: Verfolget nur ("Der Kaufmanne, Beginn des drittletzten Absatzes)


7] "jen": "nur" (durchaus auch in dem von Kafka gemeinten Sinn)


8] Bubácká dopisyBubácká dopisy Gespensterbriefe [wohl in Anlehnung an das an anderer Stelle zitierte, aus dem Chinesischen übersetzte "Gespensterbuch< / "Bubácká kniha"]

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at