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An Milena Jesenská
Du hast also Grippe gehabt? Nun ich muß mir wenigstens keine Vorwürfe
machen, die Zeit hier besonders lustig verbracht zu haben. (Manchmal verstehe
ich nicht wie die Menschen den Begriff "Lustigkeit" gefunden
haben, wahrscheinlich hat man ihn als Gegensatz der Traurigkeit nur errechnet.)
Ich war überzeugt, dass Du mir nicht mehr schreiben wirst, aber
darüber war ich weder erstaunt noch traurig. Nicht traurig, weil es
mir über alle Traurigkeit hinaus notwendig schien und weil es wahrscheinlich
in der ganzen Welt nicht genug Gewichte gibt um mein armes kleines Gewicht
hochzuheben, und nicht erstaunt, weil ich eigentlich niemals früher
erstaunt gewesen wäre, wenn Du gesagt hättest: "Bis jetzt
bin ich freundlich zu Dir gewesen, jetzt aber höre ich auf und gehe
fort." Es gibt nur erstaunliche Sachen, das aber wäre eine der
wenigst erstaunlichen gewesen; wie viel erstaunlicher ist es z. B. dass
man jeden Morgen aufsteht. Doch ist das dann keine Zuversicht gebende Überraschung
sondern eine unter Umständen Ekel erregende Kuriosität.
Ob Du ein gutes Wort verdienst Milena? Offenbar verdiene ich nicht, es
Dir zu sagen, sonst könnte ich es.
Wir werden uns früher sehn, als ich glaube? (Nun schreibe ich "sehn",
Du schreibst "zusammenleben".) Ich glaube aber (und sehe es
überall bestätigt, überall, an Dingen, die gar nicht damit
zusammenhängen, alle Dinge sprechen davon) dass wir niemals zusammenleben
werden und können, und "frühem als "niemals"
ist doch wieder nur niemals.
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Grimmenstein ist eben doch sonst besser. Der Preisunterschied ist wohl
an 50 K täglich, außerdem muß man in das andere Sanatorium
alles für die Liegekur mitbringen (Fußpelz, Kopfpolster, Decken
u.s.w., ich habe nichts davon) in Grimmenstein bekommt man es geborgt,
im "Wiener Wald" muß man eine große Kaution erlegen,
in Grimmenstein nicht, auch liegt Grimmenstein höher udgl. Übrigens
fahre ich ja noch nicht. Eine Woche lang war mir zwar genug schlecht (ein
wenig Fieber und solche Atemnot, dass ich mich fürchtete vom
Tisch aufzustehn, auch viel Husten) aber das scheint nur die Folge eines
großen Spaziergangs gewesen zu sein, auf dem ich ein wenig gesprochen
hatte, jetzt ist es viel besser, so dass das Sanatorium wieder nebensächlicher
geworden ist.
Jetzt habe ich die Prospekte hier: Im Wiener Wald bekommt man ein Südzimmer
mit Balkon erst von 380 K- an, in Grimmenstein kostet das teuerste
Zimmer K 360. Der Unterschied ist zu groß, so widerlich teuer beides
ist. Nun, die Möglichkeit von Injektionen will bezahlt sein, die Injektionen
selbst sind dann eigens zu zahlen. Aufs Land würde ich gerne fahren,
noch lieber in Prag bleiben und ein Handwerk lernen, am wenigsten gern
fahre ich in ein Sanatorium. Was soll ich dort? Vom Chefarzt zwischen die
Knie genommen werden und an den Fleischklumpen würgen, die er mir
mit den Karbolfingern in den Mund stopft und dann entlang der Gurgel hinunterdrückt.
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Nun war ich jetzt auch beim Direktor, er hat mich rufen lassen, Ottla war
nämlich gegen meinen Willen vorige Woche bei ihm, gegen meinen Willen
bin ich vom Anstaltsarzt untersucht worden, gegen meinen Willen werde ich
Urlaub bekommen.
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Kupec ist ohne Fehler. Offenbar vermutest Du dort Fehler,
weil Du Dir nicht vorstellen kannst, dass der deutsche Text wirklich
so hilflos schlecht ist wie er vor Dir liegt. Er ist aber genau so schlecht,
wie er vor Dir liegt.
Nur damit Du siehst, dass ich es auf Fehler hin gelesen habe: statt
bolí uvnitř v čele a v spáncích-uvnitř
na . . . oder ähnlich - es ist nämlich daran gedacht,
dass so wie Krallen außen an der Stirn arbeiten können,
dies auch von innen geschehn kann potírajíce
se heißt durcheinandergehn? einander durchkreuzen? - gleich danach
statt volná místo vielleicht besser náměsti
- pronássledujte jen ich weiß nicht, ob "nur"
hier "jen" ist, dieses "nur" ist
nämlich nur ein Prager jüdisches nur, bedeutet eine Aufforderung,
etwa "ihr könnt es ruhig machen" - die Schlußworte
sind nicht wörtlich übersetzt. Du trennst das Dienstmädchen
und den Mann während sie im Deutschen in einander übergehn.
Bubácká dopisy - Du hast recht. Aber es
sind wirkliche, sie haben nicht bloß Leintücher an.
1]Kupec: Kafkas Prosastück "Der Kaufmann",
das - zusammen mit fünf anderen Stücken aus dem Band "Betrachtung"
- in der Nr. 26 des "Kmen" erschienen war. Vgl. 3. Brief von
[September 1920], Anm. 2.
2] bolí uvnitř v čele a v spáncích-uvnitř
na . . . : innen in Stirn und Schläfen schmerzt - innen an
. . . (bezieht sich auf die betreffende Stelle im ersten Absatz der Betrachtung
"Der Kaufmann")
3] potírajíce se: einander bekämpfend
(bezieht sich auf "durcheinander gehn" im fünftletzten
Absatz von "Der Kaufmann")
4] volná místo: freie Stelle
5] náměsti : Platz (im konkreten, städtebaulichen
Sinne) ( Anm. 4] und 5] beziehen sich auf den "freien Platz"
im fünftletzten Absatz von "Der Kaufmanna]
6] pronássledujte jen: Verfolget nur ("Der
Kaufmanne, Beginn des drittletzten Absatzes)
7] "jen": "nur" (durchaus
auch in dem von Kafka gemeinten Sinn)
8] Bubácká dopisyBubácká
dopisy Gespensterbriefe [wohl in Anlehnung an das an anderer Stelle zitierte,
aus dem Chinesischen übersetzte "Gespensterbuch< / "Bubácká
kniha"]
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at