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An Milena Jesenská
Warum Milena schreibst Du von der gemeinsamen Zukunft, die doch niemals
sein wird, oder schreibst Du deshalb davon? Schon als wir einmal abend
in Wien flüchtig davon sprachen, hatte ich das Gefühl, als suchten
wir jemanden, den wir genau kannten und sehr entbehrten und den wir deshalb
mit den schönsten Namen riefen, aber es kam keine Antwort; wie konnte
er denn antworten, da er doch nicht da war, im weitesten Umkreis nicht.
Es gibt wenig sicheres, aber das gehört dazu, dass wir niemals
zusammenleben werden, in gemeinsamer Wohnung, Körper an Körper,
bei gemeinsamem Tisch, niemals, nicht einmal in der gleichen Stadt. Fast
hätte ich jetzt gesagt, es scheine mir das so gewiß, wie die
Gewißheit, dass ich morgen früh nicht aufstehn (ich allein
soll mich heben! Ich sehe mich dann unter mir wie unter einem schweren
Kreuz, bäuchlings niedergedrückt, schwer habe ich zu arbeiten,
ehe ich mich wenigstens ducken kann und der Leichnam über mir sich
ein wenig hebt) und nicht ins Bureau gehen werde. Das ist auch richtig,
ich werde gewiß nicht aufstehn, doch reicht das Aufstehn nur ein
kleines Stück über Menschenkraft hinaus, das erreiche ich noch,
soweit über Menschenkraft erhebe ich mich noch knapp.
Doch nimm das über das Aufstehn nicht zu wörtlich, so schlimm
ist es nicht; dass ich morgen aufstehn werde, ist immerhin gewisser
als die fernste Möglichkeit unseres Zusammenlebens. Übrigens
meinst auch Du Milena es gewiß nicht anders, wenn Du Dich prüfst
und mich und das "Meere zwischen "Wien" und "Prag"
mit seinen unüberblickbar hohen Wellen.
Und was den Schmutz betrifft, warum soll ich ihn, meinen einzigen Besitz
(aller Menschen einziger Besitz, nur weiß ich das nicht so genau)
nicht immer wieder ausbreiten? Aus Bescheidenheit etwa? Nun das wäre
der einzige berechtigte Einwand.
Dir wird ängstlich beim Gedanken an den Tod? Ich habe nur entsetzliche
Angst vor Schmerzen. Das ist ein schlechtes Zeichen. Den Tod wollen, die
Schmerzen aber nicht, das ist ein schlechtes Zeichen. Sonst aber kann man
den Tod wagen. Man ist eben als biblische Taube ausgeschickt worden, hat
nichts Grünes gefunden und schlüpft nun wieder in die dunkle
Arche.
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Die Prospekte der zwei Sanatorien habe ich bekommen, Überraschungen
konnten ja keine darin stehn, nur höchstens hinsichtlich der Preise
und der Entfernungen von Wien. Darin sind beide Sanatorien etwa gleich.
Unmäßig teuer, über 400 K täglich, wohl 500 K und
dies auch noch unverbindlich. Von Wien etwa 3 Stunden Eisenbahnfahrt und
eine halbe Stunde Wagenfahrt, also auch sehr weit, etwa so wie Gmünd,
allerdings mit Personenzug. Übrigens scheint Grimmenstein doch um
eine Kleinigkeit billiger zu sein und so würde es im Notfall, aber
erst im Notfall gewählt.
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Siehst Du Milena wie ich nur an mich denke, immerfort, oder richtiger an
den schmalen, uns gemeinsamen, nach meinem Gefühl und Willen für
uns entscheidenden Boden und wie ich alles andere ringsherum vernachlässige,
nicht einmal für Kmen und Tribuna habe ich Dir
noch gedankt, so schön Du es wieder gemacht hast. Ich werde Dir
mein Exemplar schicken, das ich hier im Tisch habe, aber vielleicht willst
Du auch dazu paar Bemerkungen, dann muß ich es noch einmal lesen
und das ist nicht leicht. Wie gern lese ich Deine Übersetzungen fremder
Schriften. War das Tolstoi-Gespräch aus dem Russischen übersetzt?
(. . . ) [ ca. 40 Wörter unleserlich gemacht ]
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Die Beilage. Damit Du auch einmal etwas zum Lachen von mir bekommst. "Je,
ona neví, co je biják? Kindásek." ["Oh,
sie weiß nicht, was Kino ist? Kintopp."]
1] zwei Sanatorien: Grimmenstein und Wiener Wald.
2] Kmen und Tribuna: Milenas Übersetzungen:
Lev Tolstoj, "Cizinec a mužik" [Der Fremde und der Bauer]
in: "Kmen", IV Jg., Nr. 25 (2. September 1920), S. 289-292,
und "Franz Kafka: Z knihy prósy" [Aus einem Prosaband] in:
"Kmen", IV, Jg., Nr. 26 (9. September 1920), S. 308-310. (Der
Beitrag bietet die Übersetzung folgender Stücke aus Kafkas "Betrachtung":
"Der plötzliche Spaziergang", "Der Ausflug ins Gebirge",
"Das Unglück des Junggesellen", "Der Kaufmann",
"Der Nachhauseweg" und "Die Vorüberlaufenden".)
3] Dir noch gedankt: Er "dankt" für
ihre Beiträge: das E r s c h e i n e n
ihrer Beiträge, denn g e s c h i c k t
hat sie sie nicht.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at