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An Milena Jesenská

[Prag, 15. September 1920]
Mittwoch
 

Es ist kein Gesetz, das mir verbietet, Dir noch zu schreiben und Dir für diesen Brief zu danken, in dem vielleicht das Schönste steht was Du mir hättest schreiben können, dieses: "ich weiß, dass Du mich . . . "

Sonst aber stimmst Du mit mir schon seit langem überein, dass wir einander jetzt nicht mehr schreiben sollen; dass ich es gerade gesagt habe, war nur Zufall, Du hättest es ebenso gut sagen können. Und da wir einig sind, ist es nicht nötig, zu erklären warum das Nicht-schreiben gut sein wird.

Schlimm ist nur, dass ich dann (Du sollst von jetzt an nicht mehr auf der Post nachfragen) keine, fast keine Möglichkeit haben werde, Dir zu schreiben oder doch die, dass ich Dir eine Karte ohne Text schicke, die bedeutet, dass auf der Post ein Brief liegt. Du sollst mir immer schreiben, wenn es irgendwie nötig wird, aber das ist a selbstverständlich.

Du erwähnst keinen Brief Vlastas. Sie hat Dir doch im Namen des Vaters den Vorschlag gemacht, auf paar Monate in ein von Dir auszuwählendes (allerdings in der Tschechoslowakei gelegenes) Sanatorium zu gehn. Da Du keine Stunden bekommen hast (was nicht merkwürdig ist, das Interesse für das Tschechische ist heuer wahrscheinlich kleiner) könntest Du doch vielleicht den Vorschlag annehmen. Das bedeutet keinen Rat, ich freue mich nur an der Vorstellung.

Ich habe es bei Vlasta sehr schlecht gemacht, daran ist gar kein Zweifel, aber doch nicht so schlecht, wie es Dir im ersten Schrecken schien. Zunächst kam ich doch nicht als ein Bittender und etwa gar in Deinem Namen. Ich kam als ein Fremder, der Dich gut kennt, der die Verhältnisse in Wien ein wenig gesehen hat und der nun auch noch zwei traurige Briefe von Dir bekommen hatte. Ich gierig zwar in Deinem Interesse zu Vlasta aber zumindest ebensosehr im Interesse des Vaters. Der nicht ganz genau ausgesprochene aber immer deutliche Grundgedanke meiner Darstellung war: den Sieg, dass Milena freiwillig, überzeugt demütig zurückkommt, wird der Vater jetzt nicht erreichen, daran ist nicht zu denken, wohl aber ist es, wie ich versichern kann, sehr leicht möglich, dass sie ihm in einem Vierteljahr schwer krank zurückgebracht wird. Und das wird doch wohl kein Sieg und überhaupt nichts Erstrebenswertes sein?

Das war das eine, das andere betraf das Geld. Ich stellte es genau so dar, wie es mir erschien; gegenüber den damaligen 2 Briefen, die mir jede weitere Oberlegungskraft nahmen, schien es mir, dass jede Rücksicht, durch die ich hier bei Vlasta meine Erzählung fälschen lasse, Dich dort in Wien ein Stück tiefer hinunterreißt. (Ganz genau so war es nicht, hier spricht schon der ewig mundfertige jüdische Verteidiger, immerhin, etwas davon war dabei.) Ich sagte also etwa: "Das Gehalt verbraucht der Mann fast allein für sich. Daran ist nichts auszusetzen, Milena wollte es nicht anders, sie liebt ihn so und will es nicht anders haben, zum Teil ist es sogar ihr Werk. Jedenfalls hat sie also abgesehen vom Mittagessen des Mannes für alles andere, zum Teil auch noch für den Mann selbst, der bei der ungeheueren Wiener Teuerung mit dem Gehalt auch für sich selbst nicht auskommt, zu sorgen. Nun könnte sie das alles auch tatsächlich leisten und wäre glücklich dabei, aber soweit war sie erst im letzten Jahr, von zuhause kam sie ja verwöhnt, unerfahren, ohne eigentliche Kenntnis ihrer Kräfte und Fähigkeiten. Zwei Jahre, keine lange Zeit, hat sie gebraucht, ehe sie sich in ihre neue Lage einlebte, ehe sie die Wirtschaft vollständig und allein versehen konnte, Unterrichtsstunden gab, in Schulen unterrichtete, übersetzte, selbst schrieb. Das war aber wie gesagt erst im letzten Jahr, die zwei Jahre vorher mußten Schulden gemacht werden, diese Schulden, die ja wieder Geld kosten, sind allerdings unmöglich aus dieser Arbeit vollständig abzuzahlen, drücken, quälen, machen es unmöglich in Ordnung zu kommen, zwingen dazu zu verkaufen was man hat, zwingen dazu sich zu überarbeiten (auch das Holztragen, das Koffertragen, das Pianino, verschwieg ich nicht) zwingen dazu krank zu werden. So also ist es."

Ich nehme keinen Abschied. Es ist kein Abschied, es wäre denn dass die Schwerkraft, die lauert, mich ganz hinabzieht. Aber wie könnte sie es, da Du lebst.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at