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An Milena Jesenská
Der erste Brief war schon weggeschickt, als der Deine kam. Abgesehen von
allem, was darunter - unter diesen Dingen "Angst" udgl. - sein
mag und wovor mich ekelt, nicht weil es ekelhaft ist sondern weil mein
Magen zu schwach ist, abgesehen davon ist es vielleicht noch einfacher
als Du es sagst. Etwa so: Die einsame Unvollkommenheit muß man ertragen,
jeden Augenblick hindurch, die Unvollkommenheit zu zweit
muß man nicht ertragen. Hat man nicht die Augen, um sich sie auszureißen
und das Herz zum gleichen Zweck? Dabei ist es ja nicht so schlimm, das
ist Übertreibung und Lüge, alles ist Übertreibung, nur die
Sehnsucht ist wahr, die kann man nicht übertreiben. Aber selbst die
Wahrheit der Sehnsucht ist nicht so sehr ihre Wahrheit, als vielmehr der
Ausdruck der Lüge alles übrigen sonst. Es klingt verdreht, aber
es ist so.
Auch ist es vielleicht nicht eigentlich Liebe wenn ich sage, dass
Du mir das Liebste bist; Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit
dem ich in mir wühle.
Übrigens sagst Du es selbst: "nemáte sily milovat"['"sie
haben keine Kraft zu lieben"], sollte das noch keine genügende
Unterscheidung sein zwischen "Tier" und "Mensch"?
1] Unvollkommenheit zu zweit: Vgl. Brief vom [20.
September 1920], S.270.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at