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An Milena Jesenská

[Prag, 14. September 1920]
 


Der erste Brief war schon weggeschickt, als der Deine kam. Abgesehen von allem, was darunter - unter diesen Dingen "Angst" udgl. - sein mag und wovor mich ekelt, nicht weil es ekelhaft ist sondern weil mein Magen zu schwach ist, abgesehen davon ist es vielleicht noch einfacher als Du es sagst. Etwa so: Die einsame Unvollkommenheit muß man ertragen, jeden Augenblick hindurch, die Unvollkommenheit zu zweit muß man nicht ertragen. Hat man nicht die Augen, um sich sie auszureißen und das Herz zum gleichen Zweck? Dabei ist es ja nicht so schlimm, das ist Übertreibung und Lüge, alles ist Übertreibung, nur die Sehnsucht ist wahr, die kann man nicht übertreiben. Aber selbst die Wahrheit der Sehnsucht ist nicht so sehr ihre Wahrheit, als vielmehr der Ausdruck der Lüge alles übrigen sonst. Es klingt verdreht, aber es ist so.

Auch ist es vielleicht nicht eigentlich Liebe wenn ich sage, dass Du mir das Liebste bist; Liebe ist, dass Du mir das Messer bist, mit dem ich in mir wühle.

Übrigens sagst Du es selbst: "nemáte sily milovat"['"sie haben keine Kraft zu lieben"], sollte das noch keine genügende Unterscheidung sein zwischen "Tier" und "Mensch"?




1] Unvollkommenheit zu zweit: Vgl. Brief vom [20. September 1920], S.270.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at