Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 3. bis 4. September 1920]
Freitag abend
 

Um Dir gleich das Wichtigste zu sagen:

Im Ganzen verlief es vielleicht recht gut, wir fuhren mit der Elektrischen auf die Kleinseite in die Wohnung ihres Schwagers, dort war niemand zu hause, wir saßen ½ Stunde allein zusammen und sprachen von Dir, dann kam ihr Verlobter - ein Herr Riha, der sich gleich (aber angenehm) ins Gespräch mischte, als sei Kenntnis Deiner Angelegenheiten etwas selbstverständliches -, dadurch wurde es doch ein wenig vorzeitig beendet, ich hatte zwar schon das Wichtigste gesagt aber noch fast nichts gefragt aber im Grunde war ja das Sagen wichtiger.

Sie ist recht angenehm, aufrichtig, klar, vielleicht ein wenig zerstreut, nicht ganz bei der Sache. Aber erstens sind in dieser Hinsicht meine Ansprüche sehr groß und zweitens ist ja auch diese Zerstreutheit ein gewisser Vorzug, ich hatte nämlich im Geheimen gefürchtet, dass die Sache ihr in jeder Hinsicht persönlich sehr nahegienge, auch von Deines Vaters Seite aus, das ist nicht der Fall. Vielleicht hängt diese Zerstreutheit auch mit ihrem Verlobtsein zusammen, wenigstens sah ich sie dann auf der Gasse mit ihrem Bräutigam in einem Gespräch, dessen Lebhaftigkeit fast an Streit grenzte.

Zunächst sagte sie, sie hätte Dir gerade schreiben wollen (so fangen alle Leute an mit denen ich von Dir spreche) aber Deine Adresse nicht gewußt, zufällig habe sie sie dann auf dem Kouvert von Deinem Brief (an den Vater) gesehn, aber dann wieder nicht gewußt, ob es noch die richtige sei-kurz hier verwirrte sie sich ein wenig, eben entweder aus Zerstreutheit oder aus einem kleinen Schuldbewußtsein.

Dann beschrieb sie ein wenig Deinen Vater ähnlich wie Du es tust. Er sei hinsichtlich Deiner viel zugänglicher als früher, allerdings nur vergleichsweise, immer fürchte er gleich, Dir zu weit entgegenzukommen. Geld über die Monatsrente hinaus zu schicken (die Rente selbst wird aber bestimmt nicht eingeschränkt) habe er gar keine Lust, das versinke einfach im Bodenlosen und niemand habe einen Nutzen davon. Vlasta hatte ihm nach Deinem Brief den Vorschlag gemacht, er möge es Dir ermöglichen, dass Du Dich etwa ein Vierteljahr in einem Sanatorium erholst, darauf habe er geantwortet, ja, das wäre vielleicht ganz gut (sie suchte das mit seinen Worten zu wiederholen um seine Schwerfälligkeit Unentschlossenheit oder Hartnäkkigkeit in dieser Hinsicht zu charakterisieren) aber dann sei er nicht mehr darauf zurückgekommen und auf Urlaub gefahren.

Eine genaue Vorstellung von dem, was eigentlich seine letzte Forderung ist, bekam ich nicht. Als ich einmal flüchtig danach fragte, wiederholte sie eigentlich nur jene 3 Briefzeilen und fügte nur auf meine Zwischenfrage hinzu, dass er damit nicht meine, dass Du bei ihm leben solltest. Wenigstens für die erste Zeit meine er das gewiß nicht. Als ich dann sagte, dass das ja etwa sein Brief gewesen sei, gab sie das zu und sagte noch: "ja, der Brief, den er mit Jesenský unterschrieben hat" woraus im Zusammenhang des Ganzen zu sehen war, dass das tatsächlich-ich hatte es Dir nicht glauben wollenein besonderer " Streich" hat sein sollen.

Als sie mich dann nach meiner Beschreibung Deiner Lage fragte, was ich also rate, was sie zu erreichen versuchen soll, sagte ich etwas, was ich mich Dir einzugestehn eigentlich fürchte.

Nein vorher muß ich noch sagen, dass meine Darstellung in Einzelnheiten gewiß schlecht, aber in den auch für Vlasta sichtbaren Tendenzen ebenso gewiß gut war. Vor allem klagte ich niemanden an, nicht im geringsten. Ich hebe das nicht als einen besondern Gesinnungsvorzug hervor, wie könnte oder dürfte ich anklagen und außerdem bin ich auch überzeugt, dass selbst ein viel Besserer als ich hier nichts anzuklagen fände, also dies meine ich nicht, ich hebe es vielmehr nur als rednerischen Vorzug hervor, denn im Reden, besonders im zweckvollen Reden kann es doch leicht geschehn, dass man anklagt gegen seinen Willen. Ich glaube, es ist mir nicht geschehn oder zumindest, wenn eine Möglichkeit dessen war, ist es sofort korrigiert worden. Übrigens war auch sie in keiner Hinsicht Anklägerin, aber da mag auch schon die Zerstreutheit mitgespielt haben.

Außerdem gelang es mir vielleicht klarzumachen, warum Du in Not sein mußt. Von außen versteht man das ja nicht ohne weiters. Vlasta rechnet und jeder rechnet so: das große Gehalt des Mannes, die 10 000 K vom Vater, Deine Arbeit, Deine Anspruchslosigkeit und nur 2 Personen, warum sollte man in Not sein müssen? Auch Vlasta sagte einmal etwa - vielleicht war es auch ein väterliches Citat, ich weiß nicht genau -: "Geld zu schicken hat ja keinen Sinn. Milena und Geld -" Aber da packte ich sie gewissermaßen rhetorisch beim Handgelenk. Also diese meine Darstellung war gut, glaube ich.

Auch hinsichtlich Deiner innern Situation scheinen sie im Mißverständnis zu sein, nur verstehe dann ich siedie Leute-nicht ganz. Dein Vater und Vlasta glauben, dass Du bereit bist ohne weiters von Deinem Mann wegzugehn und nach Prag zu übersiedeln, ja dass Du dazu schon vor längerer Zeit bereit warst und dass das einzige Hindernis dessen die Krankheit Deines Mannes ist, die Dich festhält. Hier hielt ich es für besser mich nicht einzumischen und nichts "aufzuklären", aber wenn Dein Vater das glaubt, was will er denn dann noch? Hat er dann nicht fast alles was er will?

Also schließlich fragte sie mich, was ich rate. Den " Sanatoriumsvorschlag" fand ich sehr schön, nörgelte aber doch an ihm herum (wahrscheinlich aus Eifersucht, weil er meinem Meraner Vorschlag ähnelt) weil Du ja eben von Deinem Mann während seiner Krankheit nicht weggehn willst. "Sonstige Hilfsmöglichkeit" sagte ich "sehe ich, wenn man im Einzelnen bleiben, also nicht etwas Umfassenderes unternehmen will, nur in größerem Geldzuschuß, Erhöhung der Rente oder ähnlichem. Will man aber kein Geld geben, weil man der richtigen Verwendung des Geldes nicht sicher ist, so gibt es ja auch dann Möglichkeiten z. B. (diese Möglichkeit ist aber mein ganz privater Einfall, Milena wird sich vielleicht über den Vorschlag sehr ärgern und wenn sie erfährt, dass er von mir kommt, mir endgiltig böse werden, aber wenn ich es für halbwegs gut halte und Sie Fräulein Vlasta mich fragen, muß ich es doch sagen, nicht?) ein Abonnement auf ein gutes Mittag- und Abendessen im Weißen Hahn, Josefstädterstraße. "

Dann hatte Vlasta den guten Einfall, dass sie ohne dem Vater etwas von den von mir vermittelten Kenntnissen zunächst zu sagen (wenigstens habe ich es so aufgefaßt) morgen Dir schreiben und erst auf Grund ihrer so mit Dir hergestellten Verbindung mit dem Vater sprechen wird. Ich gab Deine Wiener Adresse an (die sie plötzlich - bisher hatte sie sie nicht gekannt - sehr gut wieder erkannte) die St. Gilgener kenne ich nicht genau (zwar habe ich gestern flüchtig auf Deines Mannes Brief Hotel Post gelesen) auch weiß ich nicht wie lange Du noch dort bleibst und die Postadresse wollte ich natürlich nicht angeben.

Ich hatte aus dem Ganzen den Eindruck des genug Aussichtsreichen und dass man hier aufrichtig (aber unberaten und ein wenig müde) um Dich besorgt ist. Immerhin spielt das Geld eine gewisse Rolle. Ich sehe noch ihr (gewiß aus Zerstreutheit) besorgtes Gesicht, mit dem sie aus dem Leeren und bei vollständiger Aussichtslosigkeit eines Rechenerfolges berechnen wollte wie viel etwa so beiläufig rund genommen das Abonnement im Weißen Hahn kosten könnte. Aber das ist schon fast Bosheit von meiner Seite und rohe Ungerechtigkeit; wenn ich auf ihrem Platz gewesen wäre und mich beobachtet hätte, hätte ich gewiß unvergleichlich schändlichere Sachen gesehn. Sie ist wie gesagt ein ausgezeichnetes freundliches williges uneigennütziges Mädchen (nur - wieder die Bosheit sollte sie sich als Tribunaleserin nicht pudern und als Assistentin eines Professors weniger Goldplomben haben).

Nun das ist etwa alles; vielleicht, wenn Du fragst, würde ich mich noch an manches erinnern.

Nachmittag war ein Fräulein Reimarm (nach Angabe der sehr namenunsichern Mutter) hier, die mich in irgendeiner Sache um Rat fragen wollte, nach der Beschreibung doch vielleicht Jarmila. Die Mutter, Hüterin meines Schlafes, brachte ohne jede Mühe die Lüge heraus, dass ich, der ich 5 Schritte weiter im Bett lag, nicht zuhause sei.

Gute Nacht, auch die Maus im Winkel bei der Badezimmertür macht mich darauf aufmerksam, dass schon bald Mitternacht ist. Hoffentlich wird sie mich nicht so auf jede einzelne Nachtstunde aufmerksam machen. Wie lebendig sie ist! Wochenlang war es schon still.


---------

Samstag

Um nichts zu verschweigen: ich las Vlasta auch paar Stellen aus Deinen letzten 2 Briefen vor und gab außerdem den Rat, das Monatsgeld direkt Dir überweisen zu lassen.

Und was die Maus betrifft so war in der Nacht zwar nichts mehr zu hören, als ich aber früh die Wäsche vom Kanapee nahm, fiel etwas kleines dunkles langschwänziges, piepsendes heraus und verschwand gleich unter dem Bett. Das dürfte doch sehr wahrscheinlich die Maus gewesen sein, nicht? Auch wenn es nur in meiner Einbildung langschwänzig war und gepiepst hat? Jedenfalls konnte man unter dem Bett nichts finden (soweit man zu suchen wagte).

Der Brief von Mittwoch ist lustig? Ich weiß nicht. Ich glaube den lustigen Briefen nicht mehr, fast hätte ich gesagt: ich glaube Briefen überhaupt nicht mehr, noch im schönsten ist ein Wurm.

Zu Jarmila gut sein, nun das ist ja selbstverständlich. Aber wie? Soll ich etwa heute zu ihr gehn, da das Frl. Reimann gestern sagte, sie wolle sich mit mir beraten? Vom Zeit- und Schlafverlust ganz abgesehn, ich habe Angst vor ihr. Sie ist einer der Todesengel, aber nicht einer der hohen, die nur die Hand auflegen, sondern ein niederer, der noch Morphium nötig hat.




1] mit Jesenský unterschrieben: Kafka kannte den Brief, den Milena ihm zum Lesen geschickt hatte. Vgl. Brief vom [4. August 1920] Mittwoch, Anm. 2.


2] Fräulein Reimann: Kafkas Mutter hatte den Namen "Reiner" (oder "Reinerová") mißverstanden.


3] Todesengel: Anspielung auf den Selbstmord Josef Reiners. Vgl. Brief vom [12. Juni 1920] noch einmal Samstag, Anm. 1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at