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An Milena Jesenská
Um Dir gleich das Wichtigste zu sagen:
Im Ganzen verlief es vielleicht recht gut, wir fuhren mit der Elektrischen
auf die Kleinseite in die Wohnung ihres Schwagers, dort war niemand zu
hause, wir saßen ½ Stunde allein zusammen und sprachen von
Dir, dann kam ihr Verlobter - ein Herr Riha, der sich gleich (aber angenehm)
ins Gespräch mischte, als sei Kenntnis Deiner Angelegenheiten etwas
selbstverständliches -, dadurch wurde es doch ein wenig vorzeitig
beendet, ich hatte zwar schon das Wichtigste gesagt aber noch fast nichts
gefragt aber im Grunde war ja das Sagen wichtiger.
Sie ist recht angenehm, aufrichtig, klar, vielleicht ein wenig zerstreut,
nicht ganz bei der Sache. Aber erstens sind in dieser Hinsicht meine Ansprüche
sehr groß und zweitens ist ja auch diese Zerstreutheit ein gewisser
Vorzug, ich hatte nämlich im Geheimen gefürchtet, dass die
Sache ihr in jeder Hinsicht persönlich sehr nahegienge, auch von Deines
Vaters Seite aus, das ist nicht der Fall. Vielleicht hängt diese Zerstreutheit
auch mit ihrem Verlobtsein zusammen, wenigstens sah ich sie dann auf der
Gasse mit ihrem Bräutigam in einem Gespräch, dessen Lebhaftigkeit
fast an Streit grenzte.
Zunächst sagte sie, sie hätte Dir gerade schreiben wollen (so
fangen alle Leute an mit denen ich von Dir spreche) aber Deine Adresse
nicht gewußt, zufällig habe sie sie dann auf dem Kouvert von
Deinem Brief (an den Vater) gesehn, aber dann wieder nicht gewußt,
ob es noch die richtige sei-kurz hier verwirrte sie sich ein wenig, eben
entweder aus Zerstreutheit oder aus einem kleinen Schuldbewußtsein.
Dann beschrieb sie ein wenig Deinen Vater ähnlich wie Du es tust.
Er sei hinsichtlich Deiner viel zugänglicher als früher, allerdings
nur vergleichsweise, immer fürchte er gleich, Dir zu weit entgegenzukommen.
Geld über die Monatsrente hinaus zu schicken (die Rente selbst wird
aber bestimmt nicht eingeschränkt) habe er gar keine Lust, das versinke
einfach im Bodenlosen und niemand habe einen Nutzen davon. Vlasta hatte
ihm nach Deinem Brief den Vorschlag gemacht, er möge es Dir ermöglichen,
dass Du Dich etwa ein Vierteljahr in einem Sanatorium erholst, darauf
habe er geantwortet, ja, das wäre vielleicht ganz gut (sie suchte
das mit seinen Worten zu wiederholen um seine Schwerfälligkeit Unentschlossenheit
oder Hartnäkkigkeit in dieser Hinsicht zu charakterisieren) aber dann
sei er nicht mehr darauf zurückgekommen und auf Urlaub gefahren.
Eine genaue Vorstellung von dem, was eigentlich seine letzte Forderung
ist, bekam ich nicht. Als ich einmal flüchtig danach fragte, wiederholte
sie eigentlich nur jene 3 Briefzeilen und fügte nur auf meine Zwischenfrage
hinzu, dass er damit nicht meine, dass Du bei ihm leben solltest.
Wenigstens für die erste Zeit meine er das gewiß nicht. Als
ich dann sagte, dass das ja etwa sein Brief gewesen sei, gab sie das
zu und sagte noch: "ja, der Brief, den er mit Jesenský
unterschrieben hat" woraus im Zusammenhang des Ganzen zu sehen
war, dass das tatsächlich-ich hatte es Dir nicht glauben wollenein
besonderer " Streich" hat sein sollen.
Als sie mich dann nach meiner Beschreibung Deiner Lage fragte, was ich
also rate, was sie zu erreichen versuchen soll, sagte ich etwas, was ich
mich Dir einzugestehn eigentlich fürchte.
Nein vorher muß ich noch sagen, dass meine Darstellung in Einzelnheiten
gewiß schlecht, aber in den auch für Vlasta sichtbaren Tendenzen
ebenso gewiß gut war. Vor allem klagte ich niemanden an, nicht im
geringsten. Ich hebe das nicht als einen besondern Gesinnungsvorzug hervor,
wie könnte oder dürfte ich anklagen und außerdem bin ich
auch überzeugt, dass selbst ein viel Besserer als ich hier nichts
anzuklagen fände, also dies meine ich nicht, ich hebe es vielmehr
nur als rednerischen Vorzug hervor, denn im Reden, besonders im zweckvollen
Reden kann es doch leicht geschehn, dass man anklagt gegen seinen
Willen. Ich glaube, es ist mir nicht geschehn oder zumindest, wenn eine
Möglichkeit dessen war, ist es sofort korrigiert worden. Übrigens
war auch sie in keiner Hinsicht Anklägerin, aber da mag auch schon
die Zerstreutheit mitgespielt haben.
Außerdem gelang es mir vielleicht klarzumachen, warum Du in Not sein
mußt. Von außen versteht man das ja nicht ohne weiters.
Vlasta rechnet und jeder rechnet so: das große Gehalt des Mannes,
die 10 000 K vom Vater, Deine Arbeit, Deine Anspruchslosigkeit und nur
2 Personen, warum sollte man in Not sein müssen? Auch Vlasta sagte
einmal etwa - vielleicht war es auch ein väterliches Citat, ich weiß
nicht genau -: "Geld zu schicken hat ja keinen Sinn. Milena und Geld
-" Aber da packte ich sie gewissermaßen rhetorisch beim Handgelenk.
Also diese meine Darstellung war gut, glaube ich.
Auch hinsichtlich Deiner innern Situation scheinen sie im Mißverständnis
zu sein, nur verstehe dann ich siedie Leute-nicht ganz. Dein Vater und
Vlasta glauben, dass Du bereit bist ohne weiters von Deinem Mann wegzugehn
und nach Prag zu übersiedeln, ja dass Du dazu schon vor längerer
Zeit bereit warst und dass das einzige Hindernis dessen die Krankheit
Deines Mannes ist, die Dich festhält. Hier hielt ich es für besser
mich nicht einzumischen und nichts "aufzuklären", aber
wenn Dein Vater das glaubt, was will er denn dann noch? Hat er dann nicht
fast alles was er will?
Also schließlich fragte sie mich, was ich rate. Den " Sanatoriumsvorschlag"
fand ich sehr schön, nörgelte aber doch an ihm herum (wahrscheinlich
aus Eifersucht, weil er meinem Meraner Vorschlag ähnelt) weil Du ja
eben von Deinem Mann während seiner Krankheit nicht weggehn willst.
"Sonstige Hilfsmöglichkeit" sagte ich "sehe ich,
wenn man im Einzelnen bleiben, also nicht etwas Umfassenderes unternehmen
will, nur in größerem Geldzuschuß, Erhöhung der Rente
oder ähnlichem. Will man aber kein Geld geben, weil man der richtigen
Verwendung des Geldes nicht sicher ist, so gibt es ja auch dann Möglichkeiten
z. B. (diese Möglichkeit ist aber mein ganz privater Einfall, Milena
wird sich vielleicht über den Vorschlag sehr ärgern und wenn
sie erfährt, dass er von mir kommt, mir endgiltig böse werden,
aber wenn ich es für halbwegs gut halte und Sie Fräulein Vlasta
mich fragen, muß ich es doch sagen, nicht?) ein Abonnement auf ein
gutes Mittag- und Abendessen im Weißen Hahn, Josefstädterstraße.
"
Dann hatte Vlasta den guten Einfall, dass sie ohne dem Vater etwas
von den von mir vermittelten Kenntnissen zunächst zu sagen (wenigstens
habe ich es so aufgefaßt) morgen Dir schreiben und erst auf Grund
ihrer so mit Dir hergestellten Verbindung mit dem Vater sprechen wird.
Ich gab Deine Wiener Adresse an (die sie plötzlich - bisher hatte
sie sie nicht gekannt - sehr gut wieder erkannte) die St. Gilgener kenne
ich nicht genau (zwar habe ich gestern flüchtig auf Deines Mannes
Brief Hotel Post gelesen) auch weiß ich nicht wie lange Du noch dort
bleibst und die Postadresse wollte ich natürlich nicht angeben.
Ich hatte aus dem Ganzen den Eindruck des genug Aussichtsreichen und dass
man hier aufrichtig (aber unberaten und ein wenig müde) um Dich besorgt
ist. Immerhin spielt das Geld eine gewisse Rolle. Ich sehe noch ihr (gewiß
aus Zerstreutheit) besorgtes Gesicht, mit dem sie aus dem Leeren und bei
vollständiger Aussichtslosigkeit eines Rechenerfolges berechnen wollte
wie viel etwa so beiläufig rund genommen das Abonnement im Weißen
Hahn kosten könnte. Aber das ist schon fast Bosheit von meiner Seite
und rohe Ungerechtigkeit; wenn ich auf ihrem Platz gewesen wäre und
mich beobachtet hätte, hätte ich gewiß unvergleichlich
schändlichere Sachen gesehn. Sie ist wie gesagt ein ausgezeichnetes
freundliches williges uneigennütziges Mädchen (nur - wieder die
Bosheit sollte sie sich als Tribunaleserin nicht pudern und als Assistentin
eines Professors weniger Goldplomben haben).
Nun das ist etwa alles; vielleicht, wenn Du fragst, würde ich mich
noch an manches erinnern.
Nachmittag war ein Fräulein Reimarm (nach Angabe der sehr namenunsichern
Mutter) hier, die mich in irgendeiner Sache um Rat fragen wollte, nach
der Beschreibung doch vielleicht Jarmila. Die Mutter, Hüterin meines
Schlafes, brachte ohne jede Mühe die Lüge heraus, dass ich,
der ich 5 Schritte weiter im Bett lag, nicht zuhause sei.
Gute Nacht, auch die Maus im Winkel bei der Badezimmertür macht mich
darauf aufmerksam, dass schon bald Mitternacht ist. Hoffentlich wird
sie mich nicht so auf jede einzelne Nachtstunde aufmerksam machen. Wie
lebendig sie ist! Wochenlang war es schon still.
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Samstag
Um nichts zu verschweigen: ich las Vlasta auch paar Stellen aus Deinen
letzten 2 Briefen vor und gab außerdem den Rat, das Monatsgeld direkt
Dir überweisen zu lassen.
Und was die Maus betrifft so war in der Nacht zwar nichts mehr zu hören,
als ich aber früh die Wäsche vom Kanapee nahm, fiel etwas kleines
dunkles langschwänziges, piepsendes heraus und verschwand gleich unter
dem Bett. Das dürfte doch sehr wahrscheinlich die Maus gewesen sein,
nicht? Auch wenn es nur in meiner Einbildung langschwänzig war und
gepiepst hat? Jedenfalls konnte man unter dem Bett nichts finden (soweit
man zu suchen wagte).
Der Brief von Mittwoch ist lustig? Ich weiß nicht. Ich glaube den
lustigen Briefen nicht mehr, fast hätte ich gesagt: ich glaube Briefen
überhaupt nicht mehr, noch im schönsten ist ein Wurm.
Zu Jarmila gut sein, nun das ist ja selbstverständlich. Aber wie?
Soll ich etwa heute zu ihr gehn, da das Frl. Reimann gestern
sagte, sie wolle sich mit mir beraten? Vom Zeit- und Schlafverlust ganz
abgesehn, ich habe Angst vor ihr. Sie ist einer der Todesengel,
aber nicht einer der hohen, die nur die Hand auflegen, sondern ein niederer,
der noch Morphium nötig hat.
1] mit Jesenský unterschrieben: Kafka kannte
den Brief, den Milena ihm zum Lesen geschickt hatte. Vgl. Brief vom [4.
August 1920] Mittwoch, Anm. 2.
2] Fräulein Reimann: Kafkas Mutter hatte den
Namen "Reiner" (oder "Reinerová") mißverstanden.
3] Todesengel: Anspielung auf den Selbstmord Josef
Reiners. Vgl. Brief vom [12. Juni 1920] noch einmal Samstag, Anm. 1.
Freitag abend
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at