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An Milena Jesenská

[Prag, 1 . September 1920]
Mittwoch
 

Heute kein Brief es ist ja dumm; wenn kein Brief kommt, stelle ich es aus und wenn ein Brief kommt klage ich, aber hier darf ich es, Du weißt ja, es ist nicht Klage weder dieses noch jenes.


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Heute war Jarmila bei mir im Bureau, ich habe sie also zum zweitenmal gesehn. Ich weiß nicht genau, warum sie kam. Sie saß da bei meinem Schreibtisch, wir sprachen ein wenig von dem und jenem, dann standen wir beim Fenster, dann bei Tisch, dann setzte sie sich wieder und dann gierig sie. Sie war mir recht angenehm, still, friedlich, einfach weniger tot als letzthin, ein wenig gerötet, eigentlich sehr wenig hübsch, besonders wenn sie saß, dann sogar häßlich, den Hut ungeschickt tief ins Gesicht gedrückt. Warum sie aber kam, weiß ich nicht, vielleicht ist sie gar zu sehr allein und da sie nichts macht, grundsätzlich und notwendig, wird auch dieser Weg zu mir ein Teil des Nichtstuns gewesen sein. Das ganze Beisammensein hatte auch den Charakter des Nichts, auch die Annehmlichkeit des Nichtigen. Zum Schluß wurde es allerdings schwieriger, denn ein Schluß ist immerhin schon etwas Wirklichkeit und vom Nichts abgegrenztes, aber es hielt sich doch möglichst noch vom Wirklichen weg, es hieß nur, dass ich unbestimmt einmal, unbestimmt wann, wenn ich beim Spazierengehn in ihre Gegend komme, nachschauen werde ob sie zu Haus ist, wegen eines kleinen Spaziergangs vielleicht. Aber selbst dieses Unbestimmte ist noch viel zu viel und ich würde gern darum herumkommen. Aber nun war sie schon zweimal bei mir und ist doch nicht jemand den man einfach ohne inneren Widerstand auch nur von der Ferne kränken wollte, was soll ich tun? Hättest Du einen besonders guten Einfall, könntest Du mir vielleicht telegraphieren, denn eine briefliche Antwort bekomme ich erst in 10 Tagen.

Sie erwähnte auch - mit dieser merkwürdigen leisen schwachen Stimme - dass sie einen Brief von Dir bekommen hat. War dieser Brief vielleicht ein Anlaß für ihr Kommen? Oder schwebt sie immerfort ihrer Natur nach so hin- und hertastend durch die Welt? Oder nur hinter Dir her?

Bitte schreib mir darüber, Du vergißt jetzt oft Fragen zu beantworten. Allerdings: hlava nesnesitelně bohí [der Kopf tut unerträglich weh]hieß es gestern. Heute früh freute ich mich über das schöne Wetter, sah Dich schon im See, jetzt nachmittag ist es wieder trüb.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at