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An Milena Jesenská
Ein merkwürdiger Irrtum gestern. Gestern mittag war ich so froh wegen
Deines Briefs (vom Dienstag) und als ich ihn abend wieder überlese,
unterscheidet er sich im Wesen kaum von den letzten Briefen, ist unglücklich
weit über das hinaus, was er eingesteht. Der Irrtum beweist, wie
sehr ich nur an mich denke, in mich eingeschlossen bin, nur das von Dir
festhalte, was ich halten kann und damit am liebsten, damit es mir niemand
nimmt, irgendwohin in die Wüste laufen würde. Weil ich vom Diktieren
in mein Zimmer gelaufen kam, weil dort überraschend Dein Brief lag
weil ich ihn glücklich und gierig überflog, weil dort nicht gerade
in Fettdruck etwas gegen mich Gerichtetes stand, weil es in den Schläfen
zufällig ruhig klopfte, weil ich gerade leichtsinnig genug war mir
Dich ruhig und friedlich eingebettet vorzustellen in Wald, See und Bergen
- aus allen diesen Gründen und noch einigen andern, die alle insgesamt
nicht das Geringste mit Deinem Brief und Deiner wirklichen Lage zu tun
hatten, kam mir Dein Brief fröhlich vor und ich schrieb Dir entsprechend
unsinnig zurück.
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Montag
Liebe Milena so unbeherrscht, so hin- und hergeworfen in einem Meer, das
nur aus Bosheit einen nicht verschlingt. Letzthin bat ich Dich, nicht täglich
zu schreiben, es war aufrichtig, ich hatte Angst vor den Briefen, wenn
einmal keiner kam war ich ruhiger; wenn ich auf dem Tisch einen sah, mußte
ich alle Kräfte zusammennehmen und es reichte beiweitem nicht aus
- und heute wäre ich unglücklich gewesen, wenn nicht diese Karten
(ich habe mir beide angeeignet) gekommen wären. Dank.
[. . . ] [ca. 50 Wörter unleserlich gemacht] Bureauarbeit.
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Von den Allgemeinheiten die ich bisher über Rußland gelesen
habe, hat der beiliegende Aufsatz den größten
Eindruck auf mich oder richtiger auf meinen Körper, meine Nerven mein
Blut gemacht. Allerdings habe ich es nicht genau so übernommen, wie
es da steht, sondern erst für mein Orchester gesetzt. (Den Schluß
des Aufsatzes habe ich abgerissen, er enthält Beschuldigungen der
Kommunisten, die nicht in diesen Zusammenhang gehören, wie ja das
Ganze auch nur ein Bruchstück ist.)
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Diese Adresse mit ihren kurzen Worten, eines unter dem andern, klingt wie
eine Litanei, wie eine Anbetung, nicht?
1] der beiliegende Aufsatz: Vermutlich der Artikel
von Bertrand Russell "Aus dem bolschewistischen Rußland"
im "Prager Tagblatt", 45. Jg., Nr. 200 (25. 8. 1920), S. 4,
in dem kritisch über die gesellschaftsverändernden Strukturen
des Kommunismus berichtet wird.
Sonntag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at