Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 29. bis 30. August 1920]
Sonntag
 

Ein merkwürdiger Irrtum gestern. Gestern mittag war ich so froh wegen Deines Briefs (vom Dienstag) und als ich ihn abend wieder überlese, unterscheidet er sich im Wesen kaum von den letzten Briefen, ist unglücklich weit über das hinaus, was er eingesteht. Der Irrtum beweist, wie sehr ich nur an mich denke, in mich eingeschlossen bin, nur das von Dir festhalte, was ich halten kann und damit am liebsten, damit es mir niemand nimmt, irgendwohin in die Wüste laufen würde. Weil ich vom Diktieren in mein Zimmer gelaufen kam, weil dort überraschend Dein Brief lag weil ich ihn glücklich und gierig überflog, weil dort nicht gerade in Fettdruck etwas gegen mich Gerichtetes stand, weil es in den Schläfen zufällig ruhig klopfte, weil ich gerade leichtsinnig genug war mir Dich ruhig und friedlich eingebettet vorzustellen in Wald, See und Bergen - aus allen diesen Gründen und noch einigen andern, die alle insgesamt nicht das Geringste mit Deinem Brief und Deiner wirklichen Lage zu tun hatten, kam mir Dein Brief fröhlich vor und ich schrieb Dir entsprechend unsinnig zurück.


----------

Montag

Liebe Milena so unbeherrscht, so hin- und hergeworfen in einem Meer, das nur aus Bosheit einen nicht verschlingt. Letzthin bat ich Dich, nicht täglich zu schreiben, es war aufrichtig, ich hatte Angst vor den Briefen, wenn einmal keiner kam war ich ruhiger; wenn ich auf dem Tisch einen sah, mußte ich alle Kräfte zusammennehmen und es reichte beiweitem nicht aus - und heute wäre ich unglücklich gewesen, wenn nicht diese Karten (ich habe mir beide angeeignet) gekommen wären. Dank.

[. . . ] [ca. 50 Wörter unleserlich gemacht] Bureauarbeit.


----------


Von den Allgemeinheiten die ich bisher über Rußland gelesen habe, hat der beiliegende Aufsatz den größten Eindruck auf mich oder richtiger auf meinen Körper, meine Nerven mein Blut gemacht. Allerdings habe ich es nicht genau so übernommen, wie es da steht, sondern erst für mein Orchester gesetzt. (Den Schluß des Aufsatzes habe ich abgerissen, er enthält Beschuldigungen der Kommunisten, die nicht in diesen Zusammenhang gehören, wie ja das Ganze auch nur ein Bruchstück ist.)


----------


Diese Adresse mit ihren kurzen Worten, eines unter dem andern, klingt wie eine Litanei, wie eine Anbetung, nicht?




1] der beiliegende Aufsatz: Vermutlich der Artikel von Bertrand Russell "Aus dem bolschewistischen Rußland" im "Prager Tagblatt", 45. Jg., Nr. 200 (25. 8. 1920), S. 4, in dem kritisch über die gesellschaftsverändernden Strukturen des Kommunismus berichtet wird.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at