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An Milena Jesenská

[Prag, 28. August 1920]
Samstag
 

So schön, so schön, Milena, so schön. Nichts ist in dem Brief (von Dienstag) so schön, aber die Ruhe, das Vertrauen, die Klarheit, aus der er kommt.

Früh war nichts da; mit der Tatsache an sich hätte ich mich sehr leicht abgefunden; mit dem Briefe-bekommen ist es jetzt ganz anders, mit dem Briefe-schreiben allerdings fast unverändert, die Not und das Glück des Schreiben-müssens besteht, also mit der Tatsache hätte ich mich abgefunden, wozu brauche ich einen Brief, wenn ich z. B. gestern den ganzen Tag und Abend und die Hälfte der Nacht im Gespräch mit Dir verbracht habe, in einem Gespräch wo ich so aufrichtig und ernst war wie ein Kind und Du so aufnehmend und ernst wie eine Mutter (niemals habe ich in Wirklichkeit ein solches Kind oder eine solche Mutter gesehn), das alles wäre also angegangen, nur die Ursache des NichtSchreibens wußte ich kennen, nicht immerfort Dich krank im Bett sehn, in dem kleinen Zimmer, draußen der Herbstregen, Du allein, mit Fieber (Du schriebst davon) mit Verkühlung (Du schriebst davon) auch Nachtschweiß und Müdigkeit (von alledem schriebst Du) - wenn das alles also nicht ist, dann ist es gut und ich will jetzt nichts besseres.

In eine Antwort auf den ersten Absatz Deines Briefes lasse ich mich nicht ein, ich kenne ja noch nicht einmal den berüchtigten ersten Absatz des vorigen Briefes. Das sind lauter tief verschlungene Dinge, lösbar nur im Gespräch zwischen Mutter und Kind, lösbar dort vielleicht nur deshalb, weil sie dort nicht vorkommen können. Ich gehe deshalb darauf nicht ein, weil der Schmerz in den Schläfen lauert. Wurde mir der Liebespfeil in die Schläfen geschossen, statt ins Herz? Auch von Gmünd werde ich nicht mehr schreiben, wenigstens mit Absicht nicht. Es wäre viel darüber zu sagen aber am Ende liefe es doch darauf hinaus, dass der erste Wiener Tag, wenn ich mich am Abend verabschiedet hätte auch nicht besser gewesen wäre, wobei noch Wien den Vorteil vor Gmünd hatte, dass ich dorthin halb bewußtlos vor Angst und Erschöpfung kam, nach Gmünd dagegen ohne es zu wissen, so dumm war ich, großartig sicher, als könne mir niemals mehr etwas geschehn, wie ein Hausbesitzer kam ich hin; merkwürdig dass bei aller Unruhe die mich immerfort durchfährt, diese Ermattung des Besitzens bei mir möglich, ja mein eigentlicher Fehler vielleicht ist, in diesen und in andern Dingen.

Es ist schon ¼3, ich bekam Deinen Brief erst vor 2 Uhr, jetzt höre ich auf und gehe zum Essen, nicht?

Nicht weil es für mich eine Bedeutung hätte, nur der Aufrichtigkeit halber: gestern hörte ich, dass Lisl Beer in Gilgen vielleicht eine Villa hat. Hängt damit irgendeine Quälerei für Dich zusammen?

Die Übersetzung des Schlußsatzes ist sehr gut. In jener Geschichte hängt jeder Satz, jedes Wort, jede - wenn's erlaubt ist - Musik mit der "Angst" zusammen, damals brach die Wunde zum erstenmal auf in einer langen Nacht und diesen Zusammenhang trifft die Übersetzung für mein Gefühl genau, mit jener zauberhaften Hand, die eben Deine ist.

Sieh was so quälend an dem Briefebekommen ist, nun Du weißt es ja. Heute ist zwischen Deinem und meinem Brief ein soweit es in der großen Unsicherheit möglich ist klares, gutes, tief atmendes Beisammensein und nun muß ich die Antworten auf meine frühem Briefe erwarten, vor denen ich mich fürchte.

Wie kannst Du übrigens am Dienstag meinen Brief erwarten, wenn ich Deine Adresse erst am Montag bekommen habe?




1] nach Gmünd dagegen: Zusammenkunft in der Grenzstadt (am 14./15. August). Vgl. Brief vom [17. bis 18. August 1920] Dienstag, Anm. 1.


2] Lisl Beer: Eine Bekannte Ernst Pollaks.


3] Übersetzung des Schlußsatzes: Die Bemerkung bezieht sich auf Milenas Übertragung von Kafkas Erzählung "Das Urteil", die Kafka in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 "in einem Zug" niederschrieb. Vgl. "Tagebücher" (23. September 1912), S. 293 f. Milenas Übersetzung erschien allerdings erst Ende 1922 mit dem Titel "Soud" in der Wochenschrift "Cesta", 5. Jg., Nr. 26/27 (Ende Dezember 1922/Anfang Januar 1923), S. 369-372.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at