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An Milena Jesenská
So schön, so schön, Milena, so schön. Nichts ist in dem
Brief (von Dienstag) so schön, aber die Ruhe, das Vertrauen, die Klarheit,
aus der er kommt.
Früh war nichts da; mit der Tatsache an sich hätte ich mich sehr
leicht abgefunden; mit dem Briefe-bekommen ist es jetzt ganz anders, mit
dem Briefe-schreiben allerdings fast unverändert, die Not und das
Glück des Schreiben-müssens besteht, also mit der Tatsache hätte
ich mich abgefunden, wozu brauche ich einen Brief, wenn ich z. B. gestern
den ganzen Tag und Abend und die Hälfte der Nacht im Gespräch
mit Dir verbracht habe, in einem Gespräch wo ich so aufrichtig und
ernst war wie ein Kind und Du so aufnehmend und ernst wie eine Mutter (niemals
habe ich in Wirklichkeit ein solches Kind oder eine solche Mutter gesehn),
das alles wäre also angegangen, nur die Ursache des NichtSchreibens
wußte ich kennen, nicht immerfort Dich krank im Bett sehn, in dem
kleinen Zimmer, draußen der Herbstregen, Du allein, mit Fieber (Du
schriebst davon) mit Verkühlung (Du schriebst davon) auch Nachtschweiß
und Müdigkeit (von alledem schriebst Du) - wenn das alles also nicht
ist, dann ist es gut und ich will jetzt nichts besseres.
In eine Antwort auf den ersten Absatz Deines Briefes lasse ich mich nicht
ein, ich kenne ja noch nicht einmal den berüchtigten ersten Absatz
des vorigen Briefes. Das sind lauter tief verschlungene Dinge, lösbar
nur im Gespräch zwischen Mutter und Kind, lösbar dort vielleicht
nur deshalb, weil sie dort nicht vorkommen können. Ich gehe deshalb
darauf nicht ein, weil der Schmerz in den Schläfen lauert. Wurde mir
der Liebespfeil in die Schläfen geschossen, statt ins Herz? Auch von
Gmünd werde ich nicht mehr schreiben, wenigstens mit Absicht nicht.
Es wäre viel darüber zu sagen aber am Ende liefe es doch darauf
hinaus, dass der erste Wiener Tag, wenn ich mich am Abend verabschiedet
hätte auch nicht besser gewesen wäre, wobei noch Wien den Vorteil
vor Gmünd hatte, dass ich dorthin halb bewußtlos vor Angst
und Erschöpfung kam, nach Gmünd dagegen ohne
es zu wissen, so dumm war ich, großartig sicher, als könne mir
niemals mehr etwas geschehn, wie ein Hausbesitzer kam ich hin; merkwürdig
dass bei aller Unruhe die mich immerfort durchfährt, diese Ermattung
des Besitzens bei mir möglich, ja mein eigentlicher Fehler vielleicht
ist, in diesen und in andern Dingen.
Es ist schon ¼3, ich bekam Deinen Brief erst vor 2 Uhr, jetzt höre
ich auf und gehe zum Essen, nicht?
Nicht weil es für mich eine Bedeutung hätte, nur der Aufrichtigkeit
halber: gestern hörte ich, dass Lisl Beer in
Gilgen vielleicht eine Villa hat. Hängt damit irgendeine Quälerei
für Dich zusammen?
Die Übersetzung des Schlußsatzes ist sehr gut.
In jener Geschichte hängt jeder Satz, jedes Wort, jede - wenn's erlaubt
ist - Musik mit der "Angst" zusammen, damals brach die Wunde
zum erstenmal auf in einer langen Nacht und diesen Zusammenhang trifft
die Übersetzung für mein Gefühl genau, mit jener zauberhaften
Hand, die eben Deine ist.
Sieh was so quälend an dem Briefebekommen ist, nun Du weißt
es ja. Heute ist zwischen Deinem und meinem Brief ein soweit es in der
großen Unsicherheit möglich ist klares, gutes, tief atmendes
Beisammensein und nun muß ich die Antworten auf meine frühem
Briefe erwarten, vor denen ich mich fürchte.
Wie kannst Du übrigens am Dienstag meinen Brief erwarten, wenn ich
Deine Adresse erst am Montag bekommen habe?
1] nach Gmünd dagegen: Zusammenkunft in der
Grenzstadt (am 14./15. August). Vgl. Brief vom [17. bis 18. August 1920]
Dienstag, Anm. 1.
2] Lisl Beer: Eine Bekannte Ernst Pollaks.
3] Übersetzung des Schlußsatzes: Die
Bemerkung bezieht sich auf Milenas Übertragung von Kafkas Erzählung
"Das Urteil", die Kafka in der Nacht vom 22. zum 23. September
1912 "in einem Zug" niederschrieb. Vgl. "Tagebücher"
(23. September 1912), S. 293 f. Milenas Übersetzung erschien allerdings
erst Ende 1922 mit dem Titel "Soud" in der Wochenschrift "Cesta",
5. Jg., Nr. 26/27 (Ende Dezember 1922/Anfang Januar 1923), S. 369-372.
Samstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at