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Milena Jesenská

[Prag, 17. bis 18. August 1920]
Dienstag
 

Auf diesen Brief werde ich also erst in 10-14 Tagen Antwort bekommen, das ist im Vergleich zum Bisherigen fast ein Verlassen-Sein, nicht? Und es ist mir gerade jetzt, als hätte ich Dir einiges Unsagbare, Unschreibbare zu sagen, nicht um etwas gut zu machen, was ich in Gmünd schlecht gemacht habe, nicht um etwas Ertrunkenes zu retten, sondern um Dir etwas tief begreiflich zu machen, wie es mit mir steht, damit Du Dich nicht von mir abschrecken läßt, wie es doch trotz allem schließlich geschehen könnte unter Menschen. Mir ist manchmal als hätte ich solche Bleigewichte, dass es mich in einem Augenblick ins tiefste Meer hinunterziehn müßte und der welcher mich fassen oder gar "retten" wollte es bleiben ließe, nicht aus Schwäche, nicht einmal aus Hoffnungslosigkeit, sondern aus bloßem Ärger. Nun das ist natürlich nicht zu Dir gesprochen, sondern zu einem schwachen Schein von Dir, wie ihn ein müder, leerer (nicht unglücklicher oder aufgeregter, es ist fast ein Zustand für den man dankbar sein könnte) Kopf gerade noch erkennen kann.


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Gestern war ich also bei Jarmila. Da es Dir so wichtig war, wollte ich es um keinen Tag aufschieben, auch machte mich, um die Wahrheit zu sagen, der Gedanke, dass ich nun also mit Jarmila jedenfalls sprechen müsse, unruhig und ich wollte es lieber gleich tun. Trotz der Unrasiertheit (es war schon keine bloße Gänsehaut mehr) die mir ja, soweit das Gelingen meiner Aufgabe in Betracht kam, kaum schaden konnte. Etwa um ½7 war ich oben, die Türglocke läutete nicht, das Klopfen half nichts, die Národní Listy steckten im Briefkasten, es war offenbar niemand zuhause. Ich drehte mich ein kleines Weilchen herum, da kamen vom Hof her zwei Frauen, die eine Jarmila, die andere vielleicht ihre Mutter. Ich erkannte Jarmila sofort, trotzdem sie der Photographie kaum, Dir aber gar nicht ähnlich ist,

[. . . ] [aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes gestrichen]

 

 

 

Wir gingen gleich aus dem Haus und etwa 10 Minuten hinter der gewesenen Kadettenschule auf und ab. Das Überraschendste für mich war, dass sie entgegen Deiner Voraussage sehr gesprächig war, allerdings eben nur diese 10 Minuten lang. Sie sprach fast immerfort, es erinnerte mich sehr an die Gesprächigkeit ihres Briefes, den Du mir einmal geschickt hast. Eine Gesprächigkeit, die eine gewisse von der Sprecherin unabhängige Selbstständigkeit hat, diesmal war es noch auffallender, weil es doch nicht um so konkrete Einzelnheiten ging wie damals in dem Brief. Ein wenig erklärt sich ihre Lebhaftigkeit dadurch, dass sie, wie sie sagte, schon Tage lang wegen der Sache sehr aufgeregt ist, an Haas wegen Werfet telegraphiert hat (ohne noch Antwort zu haben) an Dich telegraphiert und express geschrieben hat, die Briefe gleich auf Deine Aufforderung hin verbrannt hat, kein Mittel mehr wußte, wie sie Dich schnell beruhigen könnte, und deshalb nachmittag schon daran gedacht hatte, zu mir zu gehn, um wenigstens mit jemandem der auch davon weiß, darüber sprechen zu können. (Sie glaubte nämlich zu wissen, wo ich wohne. Das ist so: einmal im Herbst glaube ich oder schon im Frühjahr, ich weiß nicht, ging ich mit Ottla und der kleinen Rúženka - die welche mir im Schönbornpalais das nahe Ende prophezeit hat - rudern, vor dem Rudolphinum trafen wir Haas mit einer Frau, die ich damals überhaupt nicht angeschaut habe, das war Jarmila. Haas nannte ihr meinen Namen und Jarmila merkte dass sie mit meiner Schwester vor Jahren auf der Civilschwimmschule manchmal gesprochen habe, sie hatte sie, da die Civilschwimmschule damals sehr christlich war, als jüdische Merkwürdigkeit im Gedächtnis behalten. Wir hatten damals gegenüber der Civilschwimmschule gewohnt und Ottla hatte ihr unsere Wohnung gezeigt. Nun das ist also die lange Geschichte.) Darum war sie also aufrichtig froh, dass ich gekommen war, darum so lebhaft, übrigens unglücklich über diese Verwicklungen, die ganz gewiß, ganz gewiß zuende sind und aus denen wie sie fast leidenschaftlich versicherte ganz gewiß, ganz gewiß nichts mehr entstehen wird. Mein Ehrgeiz allerdings war unbefriedigt, ich hatte - ohne allerdings die Wichtigkeit dessen ganz einzusehn, aber ich lebte eben vollständig in dem mir gegebenen Auftrag - die Briefe selbst verbrennen und die Asche selbst über das Belvedere streuen zu wollen.

Von sich sprach sie nur wenig, dass sie fortwährend zuhause sitzt - ihr Gesicht bezeugt es - mit niemandem spricht, ihre Wege sind einmal in einem Buchladen etwas nachzusehn, einmal einen Brief aufgeben. Sonst sprach sie nur von Dir (oder war ich es, der von Dir sprach, das ist nachträglich schwer zu unterscheiden); als ich erwähnte, eine wie große Freude Du einmal gehabt hättest, als Du nach einem Berliner Brief die Möglichkeit gesehn hättest, dass Dich Jarmila besuchen könnte, sagte sie, sie verstehe kaum mehr die Möglichkeit der Freude und erst recht nicht, dass jemand Freude von ihr haben könnte. Es klang einfach und glaubwürdig. Ich sagte, dass alte Zeiten doch nicht einfach fortgewischt sein können und dass dort immer Möglichkeiten sind, die lebendig werden können. Sie sagte, ja, wenn man beisammen wäre, könnte das vielleicht geschehn und sie hätte sich in letzter Zeit doch sehr auf Dich gefreut und es wäre ihr so selbstverständlich notwendig vorgekommen, dass Du hiersie zeigte mehrmals vor sich auf den Boden, wie überhaupt auch ihre Hände lebhaft waren - hier, hier wärest.

In einer Hinsicht erinnerte sie mich an Staša, beide sind, wenn sie von Dir sprechen, in der Unterwelt und sprechen müde von Dir, die lebt. Aber Jarmilas Unterwelt ist allerdings ganz anders, dort leidet der Zuschauer mehr, hier Jarmila. Sie scheint mir schonungsbedürftig.

[. . .] [aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes gestrichen]

 

 

 

Vor ihrem Haus verabschiedeten wir uns kurz.

Vorher hatte sie mich noch ein wenig geärgert mit einer umständlichen Erzählung von einer besonders schönen Photographie von Dir, die sie mir zeigen wollte. Schließlich ergab sich, dass sie diese Photographie vor der Berliner Reise, als sie alle Papiere und Briefe verbrannte, in der Hand gehabt und gerade am heutigen Nachmittag wieder, aber vergebens gesucht hatte.

Dann telegraphierte ich Dir übertreibend dass der Auftrag ausgeführt sei. Hätte ich aber mehr machen können? Und bist Du [. . .][ 2 Wörter unleserlich gemacht] mit mir zufrieden?


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Es ist sinnlos zu bitten, wenn Du den Brief erst in 14 Tagen bekommst, aber vielleicht ist das nur eine kleine Beigabe zur Sinnlosigkeit der Bitte überhaupt: Laß Dich, wenn es nur irgendwie möglich ist auf dieser haltlosen Welt (wo man eben weggerissen wird, wenn man weggerissen wird, und sich nicht helfen kann), laß Dich nicht abschrecken von mir, auch wenn ich Dich einmal oder tausendmal oder gerade jetzt oder vielleicht immer gerade jetzt enttäusche. Übrigens ist das keine Bitte und richtet sich gar nicht an Dich, ich weiß nicht, wohin es sich richtet. Es ist nur das bedrückte Atmen der bedrückten Brust.


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Mittwoch

Dein Brief von Montag früh. Seit jenem Montag morgen oder besser seit Montag mittag, als sich das Wohltätige des Reisens (abgesehen von allem, schon jede Fahrt an sich ist eine Erholung, ein Beim-Kragen-genommen-werden, ein Durch-und-durch-geschütteltwerden) schon ein wenig verflüchtigt hatte, seit damals singe ich Dir unaufhörlich ein einziges Lied vor, es ist unaufhörlich anders und immerfort das gleiche, reich wie ein traumloser Schlaf, langweilig und ermüdend, so dass selbst ich manchmal dabei einschlafe, sei froh, dass Du es nicht hören mußt, sei froh, dass Du für solange Zeit vor meinen Briefen geschützt bist.


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Ach, Menschenkennerschaft! Was habe ich denn dagegen dass Du die Stiefel wirklich schön putzt: Putze sie nur schön, stell sie dann in den Winkel und laß die Sache erledigt sein. Nur dass Du sie in Gedanken den ganzen Tag putzst, das quält mich manchmal (und macht die Stiefel nicht rein).




1] erst in 10-14 Tagen Antwort: Bald nach der Zusammenkunft mit Kafka in Gmünd, der Grenzstation auf der Strecke Prag - Wien (am 14. / 15. August), war Milena zur Erholung nach St. Gilgen am Wolfgangsee gereist.


2] gewesenen Kadettenschule: Milenas Freundin Jarmila wohnte damals in Prag IV (Hradčany), Na Valech/WallStraße 273, in der Nähe dieser Schule.


3] die Briefe: Welche Briefe Kafka hier im Auftrage Milenas verbrennen sollte, ist nicht ermittelt.


4] das nahe Ende prophezeit: Vgl. Brief vom [April 1920], S. 6.


5] gegenüber der Civilschwimmschule: Die Wohnung in der Niklas-Str./Mikulášská tř. 36, 4. Stock, in der die Familie Kafka von 1907-1913 wohnte und von der aus man &uum

l;ber die Moldau hinweg die "Zivil-Schwimmschule" und die Parkanlagen des Belvedere sehen konnte.


6] das Wohltätige des Reisens: Kafka bezieht sich auf seine Rückreise von Gmünd nach Prag am Abend des 15. August 1920.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at