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An Milena Jesenská
Also sehr gut bin ich für den Geburtstag nicht vorbereitet, noch schlechter
als sonst geschlafen, Kopf warm, Augen ausgebrannt, quälende Schläfen,
auch Husten. Ich glaube ich könnte einen längern Wunsch nicht
ohne Husten aufsagen. Glücklicherweise ist kein Wunsch nötig,
nur ein Dank dass Du da bist auf dieser Welt, der ich von vornherein
(Du siehst ich habe auch keine große Weltkenntnis, nur gestehe ich
es zum Unterschied von Dir ein) der ich es von vornherein nicht angesehen
hätte, dass Du auf ihr zu finden sein könntest. Und ich
danke Dir dafür (das ist Dank?) durch einen Kuß genau so wie
auf dem Bahnhof, trotzdem er Dir nicht gefallen hat (ich bin heute irgendwie
trotzig).
Nicht immer war mir in der letzten Zeit so schlecht, es war auch schon
zeitweilig sehr gut, mein Hauptehrentag war aber etwa vor einer Woche.
Ich mache in meiner ganzen Ohnmacht den endlosen Bassin-Rundspaziergang
auf der Schwimmschule, es war schon gegen Abend, viele Leute waren nicht
mehr dort, aber immerhin noch genug, da kommt der zweite Schwimmmeister,
der mich nicht kennt, mir entgegen, sieht sich um als ob er jemanden sucht,
bemerkt dann mich, wählt mich offenbar und fragt: Chtěl
byste si zajezdit? [Möchten Sie fahren?] Es war da nämlich ein
Herr, der von der Sophieninsel heruntergekommen war und sich auf die Judeninsel
hinüberfahren lassen wollte, irgendein großer Bauunternehmer
glaube ich; auf der Judeninsel werden große Bauten gemacht. Nun muß
man ja die ganze Sache nicht übertreiben, der Schwimmeister sah mich
armen Jungen und wollte mir die Freude einer geschenkten Bootfahrt machen,
aber immerhin mußte er doch mit Rücksicht auf den großen
Bauunternehmer einen Jungen aussuchen, der genügend zuverlässig
war sowohl hinsichtlich seiner Kraft, als auch seiner Geschicklichkeit,
als auch hinsichtlich dessen, dass er nach Erledigung des Auftrages
das Boot nicht zu unerlaubten Spazierfahrten benützt, sondern gleich
zurückkommt. Das alles also glaubte er in mir zu finden. Der große
Trnka (der Besitzer der Schwimmschule, von dem ich Dir noch erzählen
muß) kam hinzu und fragte ob der Junge schwimmen könne. Der
Schwimmeister, der mir wahrscheinlich alles ansah, beruhigte ihn. Ich hatte
überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Nun kam der Passagier und wir
fuhren ab. Als artiger Junge sprach ich kaum. Er sagte, dass es ein
schöner Abend sei, ich antwortete: ano [ja] dann sagte er, dass
es aber schon kühl sei, ich sagte: ano, schließlich sagte er,
dass ich sehr rasch fahre, da konnte ich vor Dankbarkeit nichts mehr
sagen. Natürlich fuhr ich im besten Stil bei der Judeninsel vor, er
stieg aus, dankte schön, aber zu meiner Enttäuschung hatte er
das Trinkgeld vergessen (ja, wenn man kein Mädchen ist).
Ich fuhr schnurgerade zurück. Der große Trnka war erstaunt,
dass ich so bald zurück war. - Nun, so aufgebläht vor Stolz
war ich schon lange nicht wie an diesem Abend, ich kam mir Deiner um ein
ganz winziges Stückchen, aber doch um ein Stückchen mehr wert
vor als sonst. Seitdem warte ich jeden Abend auf der Schwimmschule ob nicht
wieder ein Passagier kommt, aber es kommt keiner mehr.
Heute nachts in einem kurzen Halbschlaf fiel mir ein, ich müsse Deinen
Geburtstag dadurch feiern, dass ich die für Dich wichtigen Örtlichkeiten
absuche. Und gleich darauf, ganz ohne Willen, war ich vor dem Westbahnhof.
Es war ein ganz winziges Gebäude, auch drinnen mußte wenig Platz
sein, denn es war eben ein Schnellzug gekommen und ein Waggon, für
den drin nicht mehr Platz war, ragte aus dem Haus hervor. Sehr befriedigt
war ich davon, dass vor dem Bahnhof drei ganz nett angezogene Mädchen
(eine hatte einen Zopf, allerdings sehr mager, standen, Gepäckträgerinnen.
Es fiel mir ein, dass es also nichts so ungewöhnliches sei, was
Du getan hattest. Trotzdem war ich froh, dass Du jetzt nicht da warst,
allerdings war es mir auch leid dass Du nicht dort warst. Aber zum
Trost fand ich eine kleine Aktentasche, die ein Passagier verloren hatte,
und zog aus der kleinen Tasche zum Erstaunen der mich umstehenden Passagiere
große Kleidungsstücke heraus. Aber ein Mantel, wie ihn die Sonntagstribuna in dem an mich gerichteten "Offenen
Brief" verlangt, war leider nicht darunter; ich werde doch meinen
schicken müssen, trotzdem es nicht der richtige ist.
Besonders der zweite Teil des "Typus" ist
ausgezeichriet, scharf und böse und antisemitisch und prachtvoll.
Ich habe überhaupt bisher nicht bemerkt, was für eine raffinierte
Sache das Publicieren ist. Du sprichst so ruhig, so vertraulich, so angelegentlich
mit dem Leser, alles auf der Welt hast du vergessen, nur der Leser kümmert
Dich, zum Schluß aber sagst Du plötzlich: "Ist es schön
was ich geschrieben habe? Ja? Schön? Nun, das freut mich, aber im
übrigen bin ich fern und küssen lasse ich mich zum Dank nicht.
"Und dann ist wirklich Schluß und Du bist fort.
Weißt Du übrigens, dass Du mir zur Konfirmation, es gibt
auch eine Art jüdischer Konfirmation, geschenkt worden
bist? Ich bin 83 geboren, war also 13 Jahre alt als Du geboren wurdest.
Der 13te Geburtstag ist ein besonders Fest, ich mußte im Tempel ein
mühselig eingelerntes Stück vorbeten, oben beim Altar, dann zuhause
eine kleine (auch eingelernte) Rede halten. Ich bekam auch viele Geschenke.
Aber ich stelle mir vor, dass ich nicht ganz zufrieden war, irgendein
Geschenk fehlte mir noch, ich verlangte es vom Himmel; bis zum 10. August
zögerte er.
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Ja, ich lese natürlich sehr gern die letzten 10 Briefe durch, trotzdem
ich sie sehr genau kenne. Aber lies auch meine nach, Du wirst dort ein
ganzes Mädchenpensionat von Fragen finden.
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Über den Vater sprechen wir in Gmünd. - Vor "Grete", wie
ja meistens vor Mädchen, bin ich hilflos. Sollte ich überhaupt
schon einen Dich betreffenden Gedanken gehabt haben? Ich kann mich nicht
erinnern. Deine Hand halte ich gern in meiner, in Deine Augen sehe ich
gerne. Das ist wohl alles, Grete ab! -
Was das "Nicht-verdienem" betrifft - nechápu
jak takový človek...] [ich verstehe nicht, wie so ein Mensch
...] -, so stehe ich ja für mich vor dem gleichen Rätsel; dieses
Rätsel werden wir, glaube ich, auch zusammen nicht lösen. Es
ist übrigens lästerlich. Jedenfalls beabsichtige ich in Gmünd
keine Minute darauf zu verwenden. - Nun sehe ich, dass Du mehr lügen
mußt, als ich hätte lügen müssen. Es bedrückt
mich. Sollte es ein ernstes Hindernis geben, bleib ruhig in Wien
- auch ohne mich zu verständigen - ich werde eben einen Ausflug nach
Gmünd gemacht haben und Dir 3 Stunden näher sein. Das Visum habe
ich schon. Telegraphieren wirst Du mir ja, wenigstens heute, gar nicht
können, wegen Eueres Strikes.
am linken und am oberen Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis
da kommt der): Der Mann ist glücklich, er hatte mir nämlich schon
vor langer Zeit ein Muster dieser 1 K Marke gegeben, nein, geborgt, es
war sein einziges, ich hatte aber keine Lust es Dir zu schicken. Er hat
mir leider noch ein Muster gegeben, auch eine 1 K Marke aber schmal und
rotbraun und die habe ich verloren.
1] wenn man kein Mädchen ist: Anspielung auf
die reichliche Belohnung, die Milena in Wien für ihr Koffertragen
erhalten hatte. Vgl. Brief vom [24. Juli 1920], S. 142.
2] Sonntagstribuna: Bezieht sich auf Milenas Modeartikel
"Oblek do deště" [Regenbekleidung] in der "Tribuna",
II. Jg., Nr. 186 (8. 8. 1920), S. 5.
3] zweite Teil des "Typus": M. Jesenská,
"Nový velkoměstský typus II." [Der neue
Großstadttypus] in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 185 (7.
8. 1920), S. 1 f.; was Kafka an diesem Artikel als "antisemitisch"
empfand, ist, nicht ohne weiteres ersichtlich.
4] eine Artjüdischer Konfirmation: Die Bar
Mizwa-Feier nach Vollendung des 13. Lebensjahres. Für Kafka fand sie
am 13. Juni 1896 in der Prager Zigeuner-Synagoge statt. Eine Photographie,
die von Kafka aus diesem Anlaß aufgenommen wurde, findet sich in:
Gustav Janouch, "Franz Kafka und seine Welt" (Wien: Hans Deutsch,
1965), S. 44.
5] wegen Eueres Strikes: Die "Neue Freie Presse"
meldet in ihrem Nachmittagsblatt vom 9. August 1920 den Telephon- und Telegraphenstreik
"von heute mittag an".
Dienstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at