Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 10. August 1920]
Dienstag
 

Also sehr gut bin ich für den Geburtstag nicht vorbereitet, noch schlechter als sonst geschlafen, Kopf warm, Augen ausgebrannt, quälende Schläfen, auch Husten. Ich glaube ich könnte einen längern Wunsch nicht ohne Husten aufsagen. Glücklicherweise ist kein Wunsch nötig, nur ein Dank dass Du da bist auf dieser Welt, der ich von vornherein (Du siehst ich habe auch keine große Weltkenntnis, nur gestehe ich es zum Unterschied von Dir ein) der ich es von vornherein nicht angesehen hätte, dass Du auf ihr zu finden sein könntest. Und ich danke Dir dafür (das ist Dank?) durch einen Kuß genau so wie auf dem Bahnhof, trotzdem er Dir nicht gefallen hat (ich bin heute irgendwie trotzig).

Nicht immer war mir in der letzten Zeit so schlecht, es war auch schon zeitweilig sehr gut, mein Hauptehrentag war aber etwa vor einer Woche. Ich mache in meiner ganzen Ohnmacht den endlosen Bassin-Rundspaziergang auf der Schwimmschule, es war schon gegen Abend, viele Leute waren nicht mehr dort, aber immerhin noch genug, da kommt der zweite Schwimmmeister, der mich nicht kennt, mir entgegen, sieht sich um als ob er jemanden sucht, bemerkt dann mich, wählt mich offenbar und fragt: Chtěl byste si zajezdit? [Möchten Sie fahren?] Es war da nämlich ein Herr, der von der Sophieninsel heruntergekommen war und sich auf die Judeninsel hinüberfahren lassen wollte, irgendein großer Bauunternehmer glaube ich; auf der Judeninsel werden große Bauten gemacht. Nun muß man ja die ganze Sache nicht übertreiben, der Schwimmeister sah mich armen Jungen und wollte mir die Freude einer geschenkten Bootfahrt machen, aber immerhin mußte er doch mit Rücksicht auf den großen Bauunternehmer einen Jungen aussuchen, der genügend zuverlässig war sowohl hinsichtlich seiner Kraft, als auch seiner Geschicklichkeit, als auch hinsichtlich dessen, dass er nach Erledigung des Auftrages das Boot nicht zu unerlaubten Spazierfahrten benützt, sondern gleich zurückkommt. Das alles also glaubte er in mir zu finden. Der große Trnka (der Besitzer der Schwimmschule, von dem ich Dir noch erzählen muß) kam hinzu und fragte ob der Junge schwimmen könne. Der Schwimmeister, der mir wahrscheinlich alles ansah, beruhigte ihn. Ich hatte überhaupt kaum ein Wort gesprochen. Nun kam der Passagier und wir fuhren ab. Als artiger Junge sprach ich kaum. Er sagte, dass es ein schöner Abend sei, ich antwortete: ano [ja] dann sagte er, dass es aber schon kühl sei, ich sagte: ano, schließlich sagte er, dass ich sehr rasch fahre, da konnte ich vor Dankbarkeit nichts mehr sagen. Natürlich fuhr ich im besten Stil bei der Judeninsel vor, er stieg aus, dankte schön, aber zu meiner Enttäuschung hatte er das Trinkgeld vergessen (ja, wenn man kein Mädchen ist). Ich fuhr schnurgerade zurück. Der große Trnka war erstaunt, dass ich so bald zurück war. - Nun, so aufgebläht vor Stolz war ich schon lange nicht wie an diesem Abend, ich kam mir Deiner um ein ganz winziges Stückchen, aber doch um ein Stückchen mehr wert vor als sonst. Seitdem warte ich jeden Abend auf der Schwimmschule ob nicht wieder ein Passagier kommt, aber es kommt keiner mehr.

Heute nachts in einem kurzen Halbschlaf fiel mir ein, ich müsse Deinen Geburtstag dadurch feiern, dass ich die für Dich wichtigen Örtlichkeiten absuche. Und gleich darauf, ganz ohne Willen, war ich vor dem Westbahnhof. Es war ein ganz winziges Gebäude, auch drinnen mußte wenig Platz sein, denn es war eben ein Schnellzug gekommen und ein Waggon, für den drin nicht mehr Platz war, ragte aus dem Haus hervor. Sehr befriedigt war ich davon, dass vor dem Bahnhof drei ganz nett angezogene Mädchen (eine hatte einen Zopf, allerdings sehr mager, standen, Gepäckträgerinnen. Es fiel mir ein, dass es also nichts so ungewöhnliches sei, was Du getan hattest. Trotzdem war ich froh, dass Du jetzt nicht da warst, allerdings war es mir auch leid dass Du nicht dort warst. Aber zum Trost fand ich eine kleine Aktentasche, die ein Passagier verloren hatte, und zog aus der kleinen Tasche zum Erstaunen der mich umstehenden Passagiere große Kleidungsstücke heraus. Aber ein Mantel, wie ihn die Sonntagstribuna in dem an mich gerichteten "Offenen Brief" verlangt, war leider nicht darunter; ich werde doch meinen schicken müssen, trotzdem es nicht der richtige ist.

Besonders der zweite Teil des "Typus" ist ausgezeichriet, scharf und böse und antisemitisch und prachtvoll. Ich habe überhaupt bisher nicht bemerkt, was für eine raffinierte Sache das Publicieren ist. Du sprichst so ruhig, so vertraulich, so angelegentlich mit dem Leser, alles auf der Welt hast du vergessen, nur der Leser kümmert Dich, zum Schluß aber sagst Du plötzlich: "Ist es schön was ich geschrieben habe? Ja? Schön? Nun, das freut mich, aber im übrigen bin ich fern und küssen lasse ich mich zum Dank nicht. "Und dann ist wirklich Schluß und Du bist fort.

Weißt Du übrigens, dass Du mir zur Konfirmation, es gibt auch eine Art jüdischer Konfirmation, geschenkt worden bist? Ich bin 83 geboren, war also 13 Jahre alt als Du geboren wurdest. Der 13te Geburtstag ist ein besonders Fest, ich mußte im Tempel ein mühselig eingelerntes Stück vorbeten, oben beim Altar, dann zuhause eine kleine (auch eingelernte) Rede halten. Ich bekam auch viele Geschenke. Aber ich stelle mir vor, dass ich nicht ganz zufrieden war, irgendein Geschenk fehlte mir noch, ich verlangte es vom Himmel; bis zum 10. August zögerte er.


----------


Ja, ich lese natürlich sehr gern die letzten 10 Briefe durch, trotzdem ich sie sehr genau kenne. Aber lies auch meine nach, Du wirst dort ein ganzes Mädchenpensionat von Fragen finden.


----------


Über den Vater sprechen wir in Gmünd. - Vor "Grete", wie ja meistens vor Mädchen, bin ich hilflos. Sollte ich überhaupt schon einen Dich betreffenden Gedanken gehabt haben? Ich kann mich nicht erinnern. Deine Hand halte ich gern in meiner, in Deine Augen sehe ich gerne. Das ist wohl alles, Grete ab! -

Was das "Nicht-verdienem" betrifft - nechápu jak takový človek...] [ich verstehe nicht, wie so ein Mensch ...] -, so stehe ich ja für mich vor dem gleichen Rätsel; dieses Rätsel werden wir, glaube ich, auch zusammen nicht lösen. Es ist übrigens lästerlich. Jedenfalls beabsichtige ich in Gmünd keine Minute darauf zu verwenden. - Nun sehe ich, dass Du mehr lügen mußt, als ich hätte lügen müssen. Es bedrückt mich. Sollte es ein ernstes Hindernis geben, bleib ruhig in Wien - auch ohne mich zu verständigen - ich werde eben einen Ausflug nach Gmünd gemacht haben und Dir 3 Stunden näher sein. Das Visum habe ich schon. Telegraphieren wirst Du mir ja, wenigstens heute, gar nicht können, wegen Eueres Strikes.


am linken und am oberen Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis da kommt der): Der Mann ist glücklich, er hatte mir nämlich schon vor langer Zeit ein Muster dieser 1 K Marke gegeben, nein, geborgt, es war sein einziges, ich hatte aber keine Lust es Dir zu schicken. Er hat mir leider noch ein Muster gegeben, auch eine 1 K Marke aber schmal und rotbraun und die habe ich verloren.




1] wenn man kein Mädchen ist: Anspielung auf die reichliche Belohnung, die Milena in Wien für ihr Koffertragen erhalten hatte. Vgl. Brief vom [24. Juli 1920], S. 142.


2] Sonntagstribuna: Bezieht sich auf Milenas Modeartikel "Oblek do deště" [Regenbekleidung] in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 186 (8. 8. 1920), S. 5.


3] zweite Teil des "Typus": M. Jesenská, "Nový velkoměstský typus II." [Der neue Großstadttypus] in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 185 (7. 8. 1920), S. 1 f.; was Kafka an diesem Artikel als "antisemitisch" empfand, ist, nicht ohne weiteres ersichtlich.


4] eine Artjüdischer Konfirmation: Die Bar Mizwa-Feier nach Vollendung des 13. Lebensjahres. Für Kafka fand sie am 13. Juni 1896 in der Prager Zigeuner-Synagoge statt. Eine Photographie, die von Kafka aus diesem Anlaß aufgenommen wurde, findet sich in: Gustav Janouch, "Franz Kafka und seine Welt" (Wien: Hans Deutsch, 1965), S. 44.


5] wegen Eueres Strikes: Die "Neue Freie Presse" meldet in ihrem Nachmittagsblatt vom 9. August 1920 den Telephon- und Telegraphenstreik "von heute mittag an".

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at