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An Milena Jesenská

[Prag, 8. bis 9. August 1920]
Sonntag abend
 

Eines stört mich seit jeher in Deiner Argumentation, im letzten Brief ist es besonders klar, es ist ein unzweifelhafter Fehler, auf den hin Du Dich ja prüfen kannst: Wenn Du sagst, dass Du (wie es ja auch wahr ist) Dei nen Mann so liebst, dass Du ihn nicht verlassen kannst (schon mir zuliebe nicht, ich meine: das wäre ja für mich entsetzlich, wenn Du es trotzdem tätest) so glaube ich es und gebe Dir recht. Wenn Du sagst, dass Du ihn zwar verlassen könntest, er aber Dich innerlich braucht und ohne Dich nicht leben kann, dass Du ihn also deshalb nicht verlassen kannst, so glaube ich es auch und gebe Dir auch recht. Wenn Du aber sagst, dass er äußerlich mit dem Leben ohne Dich nicht fertig werden kann und dass Du ihn deshalb (dies zu einem Hauptgrund gemacht) deshalb nicht verlassen kannst, dann ist das entweder zum Verdecken der früher genannten Gründe gesagt (nicht zur Verstärkung, denn Verstärkung brauchen jene Gründe nicht) oder aber, es ist nur einer jener Späße des Gehirns (von denen Du im letzten Briefe schreibst) (. . .) [ein Wort unleserlich gemacht] unter denen sich der Körper und nicht nur der Körper windet.


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Montag

Gerade wollte ich Dir noch etwas in den Gedankengängen des Vorigen schreiben, da kamen 4 Briefe, übrigens nicht auf einmal, zuerst der, in dem Du bedauerst mir von der Ohnmacht geschrieben zu haben, ein Weilchen später der, den Du gleich nach der Ohnmacht geschrieben hast zusammen mit dem, nun mit dem der sehr schön ist und noch nach einem Weilchen der Brief der von Emilie handelt. Ihre Reihenfolge erkenne ich nicht ganz genau, Du schreibst nicht mehr die Tage.

Ich werde also die Frage "strach - touha" ["Angst - Sehnsucht"] beantworten, auf einmal wird es kaum gelingen, aber komme ich in mehreren Briefen nochmals darauf zurück, wird es vielleicht gehn. Eine gute Voraussetzung wäre es auch wenn Du meinen (im übrigen schlechten, unnötigen) Vaterbrief kennen würdest. Vielleicht nehme ich ihn nach Gmünd mit.

Wenn man "strack" und "touha" so einschränkt, wie Du es im letzten Brief tust, dann ist die Frage nicht leicht, aber sehr einfach zu beantworten. Dann habe ich nur "strack". Und das ist so:

Ich erinnere mich an die erste Nacht. Wir wohnten damals in der Zeltnergasse, gegenüber war ein Konfektionsgeschäft, in der Tür stand immer ein Ladenmädchen, oben wanderte ich, etwas über 20 Jahre alt, unaufhörlich im Zimmer auf und ab mit dem nervenspannenden Einlernen für mich sinnloser Dinge zur ersten Staatsprüfung beschäftigt. Es war im Sommer, sehr heiß, diese Zeit wohl, es war ganz unerträglich, beim Fenster blieb ich, die widerliche römische Rechtsgeschichte zwischen den Zähnen, immer stehn, schließlich verständigten wir uns durch Zeichen. Am Abend um 8 Uhr sollte ich sie abholen, aber als ich abend hinunterkam, war schon ein anderer da, nun das änderte nicht viel, ich hatte vor der ganzen Welt Angst, also auch vor diesem Mann; wenn er nicht da gewesen wäre, hätte ich auch Angst vor ihm gehabt. Aber das Mädchen hängte sich zwar in ihn ein, aber machte mir Zeichen, dass ich hinter ihnen gehen solle. So kamen wir auf die Schützeninsel, tranken dort Bier, ich am Nebentisch, gingen dann, ich hinterher, langsam zur Wohnung des Mädchens, irgendwo beim Fleischmarkt, dort nahm der Mann Abschied, das Mädchen lief ins Haus, ich wartete ein Weilchen, bis sie wieder zu mir herauskam und dann giengen wir in ein Hotel auf der Kleinseite. Das alles war, schon vor dem Hotel, reizend, aufregend und abscheulich, im Hotel war es nicht anders. Und als wir dann gegen Morgen, es war noch immer heiß und schön, über die Karlsbrücke nachhause giengen, war ich allerdings glücklich, aber dieses Glück bestand nur darin, dass ich endlich Ruhe hatte vor dem ewig jammernden Körper, vor allem aber bestand das Glück darin, dass das Ganze nicht noch abscheulicher, nicht noch schmutziger gewesen war. Ich war dann noch einmal mit dem Mädchen beisammen, ich glaube, 2 Nächte später, es war alles so gut wie zum erstenmal, aber als ich dann gleich in die Sommerfrische fuhr, draußen ein wenig mit einem Mädchen spielte, konnte ich in Prag das Ladenmädchen nicht mehr ansehn, kein Wort habe ich mehr mit ihr gesprochen, sie war (von mir aus gesehn) meine böse Feindin und war doch ein gutmütiges freundliches Mädchen, immerfort verfolgte sie mich mit ihren nichts verstehenden Augen. Ich will nicht sagen, dass der alleinige Grund meiner Feindschaft (sicher war er es nicht) der gewesen ist, dass das Mädchen im Hotel in aller Unschuld eine winzige Abscheulichkeit gemacht hat (nicht der Rede wert), eine kleine Schmutzigkeit gesagt hat (nicht der Rede wert), aber die Erinnerung blieb, ich wußte im gleichen Augenblick, dass ich das nie vergessen werde und gleichzeitig wußte ich oder glaubte es zu wissen, dass dieses Abscheuliche und Schmutzige, äußerlich gewiß nicht notwendig, innerlich aber sehr notwendig mit dem Ganzen zusammenhänge und dass mich gerade dieses Abscheuliche und Schmutzige (dessen kleines Zeichen mir ihre kleine Handlung, ihr kleines Wort gewesen war) mit so wahnsinniger Gewalt in dieses Hotel gezogen hatte, dem ich sonst ausgewichen wäre mit meiner letzten Kraft.

Und so wie es damals war, blieb es immer. Mein Körper, oft jahrelang still, wurde dann wieder geschüttelt bis zum Nicht-ertragen-können von dieser Sehnsucht nach einer kleinen, nach einer ganz bestimmten Abscheulichkeit, nach etwas leicht Widerlichem, Peinlichem, Schmutzigen, noch in dem Besten, was es hier für mich gab war etwas davon, irgendein kleiner schlechter Geruch, etwas Schwefel, etwas Hölle. Dieser Trieb hatte etwas vom ewigen Juden, sinnlos gezogen sinnlos wandernd durch eine sinnlos schmutzige Welt.

Dann aber gab es auch Zeiten, wo der Körper nicht still war, wo überhaupt gar nichts still war, wo ich aber trotzdem unter gar keinem Zwang war, es war ein gutes, ruhiges, nur durch Hoffnung beunruhigtes (kennst Du eine bessere Unruhe?) Leben. In diesen Zeiten, soweit sie nur irgendeine Dauer hatten, war ich immer allein. Zum erstenmal in meinem Leben gibt es jetzt solche Zeiten, in denen ich nicht allein bin. Darum ist nicht nur Deine körperliche Nähe sondern Du selbst beruhigend-beunruhigend.

Darum habe ich keine Sehnsucht nach Schmutz (in der ersten Meraner Hälfte machte ich gegen meinen offenen Willen Tag und Nacht Pläne, wie ich mich des Stubenmädchens bemächtigen könnte (noch Ärgeres), gegen das Meraner Ende zu lief mir ein sehr williges Mädchen in die Hände, ich mußte mir ihre Worte gewissermaßen erst in meine Sprache übersetzen um sie überhaupt verstehn zu können) ich sehe förmlich auch keinen Schmutz, nichts derartiges, was von außen reizt, ist da, aber alles, das von innen Leben bringt, kurz, etwas von der Luft ist da, die man im Paradies vor dem Sündenfall geatmet hat. Nur etwas von dieser Luft, daher fehlt " touha", nicht jene ganze Luft, daher gibt es " Angst". - Nun weißt Du es also. Und darum hatte ich zwar "Angst" vor einer Gmündener Nacht, aber nur die übliche "Angst" (ach, es genügt die übliche) die ich auch in Prag habe, keine besondere Gmündner Angst.

Und nun erzähl von Emilie, ich kann den Brief noch in Prag bekommen.


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Heute lege ich nichts bei, erst morgen. Dieser Brief ist doch wichtig, ich will, dass Du ihn ungefährdet bekommst.


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Die Ohnmacht, es ist nur ein Zeichen unter andern. Bitte, komm nach Gmünd bestimmt. Wenn es Sonntag früh regnet, dann kannst Du nicht kommen? (. . .)[4 Wörter unleserlich gemacht] Nun ich bin also jedenfalls Sonntag vormittag vor dem Gmündner Bahnhof. Du brauchst doch wohl keinen Paß? Hast Du Dich schon erkundigt? Brauchst Du etwas, was ich Dir mitbringen könnte? Mit Deiner Erwähnung Stašas meinst Du, dass ich zu ihr gehn soll? Sie ist aber doch kaum in Prag. (Wenn sie in Prag ist, ist es natürlich noch schwieriger zu ihr zu gehn.) Ich warte damit bis zur nächsten Erwähnung, oder bis Gmünd. Staša sagte es übrigens, soweit ich mich erinnere, als etwas ganz Selbstverständliches, ja, Dein Vater und Dein Mann hätten mit einander gesprochen und öfters.


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Die Bemerkung über Laurin (was für ein Gedächtnis! - das ist nicht Ironie sondern Eifersucht und nicht Eifersucht, sondern dummer Spaß) hast Du mißverstanden. Es war mir nur auffallend, dass alle Leute, von denen er sprach, entweder "Dummköpfe" oder "Gauner" oder "Fensterspringerinnen" waren, während Du einfach Milena undzwar eine sehr respektable warst. Das freute mich und deshalb habe ich Dir davon geschrieben und nicht etwa weil es Deine, sondern weil es seine Ehrenrettung war. Übrigens gab es, um genau zu sein, auch noch paar andere Ausnahmen, sein damals künftiger Schwiegervater, seine Schwägerin, sein Schwager, der frühere Bräutigam seiner Braut, alle die waren aufrichtig "herrliche" Menschen, [ . . . }[etwa 3 Zeilen unleserlich gemacht]

 

 

 

So traurig ist Dein heutiger Brief und vor allem so versperrt hat er seinen Schmerz in sich, dass ich mir ganz ausgeschlossen vorkomme. Muß ich einmal aus meinem Zimmer weggehn, laufe ich die Treppen hinauf, herunter um nur wieder dort zu sein und auf dem Tisch das Telegramm zu finden: "Auch ich bin Samstag in Gmünd". Aber es ist noch nichts gekommen.


am oberen und am rechten Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis unter denen sich der): Dank für die Marken, so ist es wenigstens erträglich, aber der Mann arbeitet nichts schaut nur entzückt die Marken an, wie ich ein Stock tiefer die Briefe, z. B. die 10 h Marken gibt es auf steifem und auf dünnem Papier, die auf dünnem sind seltener, Du hast heute, Gute, die dünnen geschickt.


am linken und am oberen Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab wohl keinen Paß): Du kommst gleich nach 9 Uhr, laß Dich als Österreicherin nicht von der Zollrevision aufhalten, ich kann doch nicht stundenlang den Satz für mich aufsagen, mit dem ich Dich begrüßen will.




1] Vaterbrief:- Vgl. Brief vom [21. Juni 1920], Anm. 1.


2] Bemerkung über Laurin: Vgl. Brief vom [18. Juli 1920] Sonntag, S.124f., in dem Kafka über sein Gespräch mit Arne Laurin berichtet hatte.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at