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An Milena Jesenská

[Prag, 6. August 1920]
Freitag
 

Nun ja es geht Dir schlecht, wie noch nie, seitdem ich Dich kenne. Und diese unüberwindbare Entfernung mit Deinem Leiden zusammen wirkt so, wie wenn ich in Deinem Zimmer wäre und Du könntest mich kaum erkennen und ich wanderte hilflos zwischen Bett und Fenster hin und her und hätte zu niemandem Vertrauen zu keinem Arzt, zu keiner Heilbehandlung und wüßte gar nichts und würde diesen trüben Himmel ansehn, der sich mir irgendwie nach allen Späßen früherer Jahre zum erstenmal in seiner wahren Trostlosigkeit zeigte, hilflos wie ich. Du liegst im Bett? Wer bringt Dir das Essen? Was für Essen? Und diese Kopfschmerzen. Wenn Du einmal kannst, schreib mir etwas darüber. Ich hatte einmal einen Freund, einen ostjüdischen Schauspieler, der hatte jedes ¼ Jahr einige Tage lang entsetzliche Kopfschmerzen, sonst war er ganz gesund, kamen aber diese Tage, dann mußte er sich auf der Gasse an die Häusermauer lehnen und man konnte nichts anderes für ihn tun, als dass man halbstundenlang auf und abgieng und so auf ihn wartete. Der Kranke ist vom Gesunden verlassen, aber der Gesunde vom Kranken auch. Es sind regelmäßig wiederkehrende Schmerzen? Und der Arzt? Und seit wann sind sie da? Nun nimmst Du wohl auch Tabletten? Schlimm, schlimm und Kindchen darf ich nicht einmal sagen.

Schade dass Deine Abreise wieder verschoben worden ist, nun fährst Du also erst von Donnerstag in einer Woche. Nun, dieses Glück Dich dort aufleben zu sehn zwischen See, Wald und Bergen, dieses Glück werde ich nicht haben. Aber wieviel Glück will ich denn noch, Gieriger, Gieriger. Schade, dass Du Dich noch so lange in Wien quälen mußt.

Über Davos werden wir noch sprechen. Ich will nicht hin, weil es zu weit, zu teuer und zu unnötig ist. Fahre ich von Prag weg, und das werde ich wohl müssen, fahre ich am besten in irgendein Dorf. Allerdings wo nimmt mich jemand auf? Darüber werde ich noch nachdenken müssen, aber vor Oktober fahre ich ja nicht.

Gestern abend traf ich einen gewissen Stein, vielleicht kennst Du ihn aus den Kaffeehäusern, man hat ihn immer mit König Alphons verglichen. Er ist jetzt Koncipient bei einem Advokaten, war sehr froh mich zu treffen, er habe mit mir zu sprechen, dienstlich, er hätte mich sonst nächsten Tag telephonisch anrufen müssen. "Nun, was denn?" "Eine Ehescheidungsangelegenheit, bei der ich auch ein wenig beteiligt sei, d. h. er bitte mich um mein Eingreifen. " "Wie denn?" Ich mußte mir wirklich die Hand ans Herz halten. Aber dann ergab sich, dass es nur die Ehescheidung der Eltern des einen Dichters war und dass die Mutter die ich gar nicht kenne, ihn, den Dr Stein, gebeten habe, ich möge ein wenig auf den Dichter einwirken, dass er sie, die Mutter, etwas besser behandelt und nicht gar so beschimpft.

Übrigens eine sonderbare Ehe. Denke. Die Frau war schon einmal verheiratet; während dieser früheren Ehe bekam sie von ihrem gegenwärtigen Mann ein Kind, eben den Dichter. Dieser trägt also den Namen des früheren Mannes, nicht seines Vaters. Dann haben sie also geheiratet und nun nach vielen Jahren sind sie auf Betreiben des Mannes, des Dichter-Vaters, wieder geschieden. Die Scheidung ist schon vollzogen. Da aber die Frau bei der jetzigen Wohnungsnot keine Wohnung für sich bekommen kann, leben sie, nur aus diesem Grunde, ehelich miteinander, ohne aber dass dieses eheliche Zusammenleben (aus Wohnungsnot) den Mann mit ihr versöhnen würde oder gar von der Scheidung abstehn ließe. Sind wir nicht bis zur Komik arme Menschen? Den Mann kenne ich, ein guter, vernünftiger, sehr tüchtiger, umgänglicher Mensch.

Den Wunschzettel schick mir natürlich, je größer desto besser, in jedes Buch in jede Sache, die Du willst, krieche ich, um in ihr nach Wien zu fahren (dagegen hat der Direktor nichts) gib mir möglichst viele Fahrgelegenheiten. Und die Aufsätze die in der Tribuna schon erschienen sind könntest Du mir borgen.

Übrigens freue ich mich fast auf Deinen Urlaub, bis auf die schlechte Postverbindung. Nicht wahr Du wirst mir kurz beschreiben wie es dort aussieht, Dein Leben, Deine Wohnung, Deine Wege, die Fensteraussicht, das Essen damit ich ein wenig mitleben kann.


am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis nichts anderes): Die 6 Legionärsmarken sind beigeschlossen, ein Dank genügt, aber im Briefinnern, weil dort wärmer ist.




1] ostjüdischen Schauspieler: Der Jargon-Schauspieler Jizchak Löwy, mit dem Kafka seit dem Auftreten seiner Truppe in Prag im Oktober 1911 befreundet war. Vgl. "Tagebücher", S. 97-100.


2] Deine Abreise: Milenas Absicht, sich in St. Gilgen am Wolfgangsee zu erholen.


3] Davos: Vgl. Brief vom [2. bis 3. August 1920], Montag abend, Anm. 1.


4] Stein: Paul Stein, Prager Jurist.


5] Eltern des einen Dichters: Eltern Gustav Janouchs; Kafka teilte Milena hier die verschlungene Geschichte von dessen Herkunft mit. Der leibliche Vater Gustav Janouchs - er hieß Gustav Kubasa - war Kafkas Kollege in der Arbeiter-UnfallVersicherungs-Anstalt. (Gustav Janouch konnte den Namen seines leiblichen Vaters nicht tragen, weil der erste Ehemann seiner Mutter, Pavel Janouch, zwar für verschollen galt, nach dem Gesetz aber noch nicht von ihr getrennt war.)


6] Wunschzettel: Kafka hatte ihr angeboten, Aufträge für sie in Prag zu erledigen, wie den schon erwähnten Besuch des Grabes ihres kleinen Bruders auf dem Olschaner Friedhof. Im Laufe der Zeit nahmen die Zahl und der Schwierigkeitsgrad dieser Aufträge immer mehr zu.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at