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An Milena Jesenská

[Prag, 4. bis 5. August 1920]
Mittwoch abend
 

Jetzt gegen 10 Uhr abends war ich im Bureau, das Telegramm war da, so schnell, fast könnte ich zweifeln, dass es die Antwort auf mein gestriges Telegramm ist, aber es steht doch da: abgeschickt am 4 VIII 11 Uhr vormittags. Es ist sogar um 8 Uhr schon dagewesen, hat also nur 8 Stunden gebraucht. Das ist eine der Tröstungen die das Telegramm zu sich selbst gibt, dass wir doch örtlich genug nah beisammen sind: in fast 24 Stunden kann ich Deine Antwort haben. Und diese Antwort muß doch nicht immer sein: fahre nicht.

Eine kleinste Möglichkeit bleibt noch; vielleicht hast Du meinen Brief noch nicht bekommen, in dem ich Dir erklärte, dass Du keine Nacht von Wien wegbleiben mußt und doch nach Gmünd fahren kannst. Aber das mußt Du ja auch selbst herausgefunden haben. Immerhin denke ich noch nach, ob ich mir auf diese winzige Möglichkeit hin das nur 30 Tage (Deine Urlaubsreise) geltende Visum geben und die Schnellzugskarte jedenfalls sichern lassen soll.

Ich werde es aber wohl nicht tun, das Telegramm ist so bestimmt, Du hast jedenfalls unmöglich zu überwindende Bedenken gegen die Reise. Nun sieh Milena es macht ja nichts, ich selbst hätte mich ja gar nicht (allerdings nur deshalb weil ich nicht ahnte wie einfach die Zusammenkunftsmöglichkeit ist) zu dem tätigen Wunsch verstiegen, Dich "schon" nach 4 Wochen sehn zu wollen; wären wir zusammengekommen, hätte ich es ja ausschließlich Dir verdankt und Du hast also (abgesehen davon dass es, wenn Du nicht kommst, unbedingt so sein muß, das weiß ich) auch von daher das Recht diese Möglichkeit, die von Dir geschaffen ist, zu streichen, darüber müßte ich ja gar nicht schreiben, es ist nur das, dass man diesen schmalen Weg aus der dunklen Wohnung hinaus zu Dir mit solcher Freude geprobt hat und dass sich allmählich alles was man ist mit hineingeworfen hat in diesen vielleicht (die Narrheit sagt gleich: gewiß! gewiß! gewiß!) zu Dir führenden Gang, der aber plötzlich statt an Dich an den undurchdringlichen [. . .] [ca. 5 Wörter unleserlich gernacht] Stein Bitte-fahre-nicht stößt, so dass man jetzt wieder mit allem was man ist, diesen Gang, den man so schnell gegraben hat, [. . .] [ ein Wort unleserlich gemacht langsam zurückwandern und zuschütten muß. Also das schmerzt ein wenig, aber kann schon, da man so umständlich darüber zu schreiben imstande ist, nicht sehr schlimm sein. Am Ende macht man schon wieder neue Gänge, man, alter Maulwurf.

Viel schlimmer ist, dass die Zusammenkunft aus Gründen, die ich gestern, glaube ich, angedeutet habe, sehr wichtig gewesen wäre. In dieser Hinsicht kann sie durch nichts ersetzt werden und deshalb eigentlich bin ich traurig wegen des Telegramms. Aber vielleicht steht in Deinem Übermorgen-brief ein Trost dazu.


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Nur eine Bitte habe ich: In Deinem heutigen Brief stehn zwei sehr harte Sätze. Der erste (a ty neprijedeš poněvadž čekáš až to Tobě jednou bude nutně, to, abys přijel) [und Du kommst nicht, weil Du wartest, dass es Dir einmal nötig sein wird, dass Du kommst]. hat ja einige Berechtigung, der zweite (Měj se pěkně Franku - es folgt dann, damit Du den Klang des Satzes hören kannst: telegrafovat ti ten falešný telegram nemá tedy smyslu, neposílám ho. Gehab Dich wohl, Frank [. . .:] es hat also keinen Sinn, Dir das falsche Telegramm zu telegraphieren, ich schicke es also nicht. Warum hast Du es doch geschickt?) dieses Měj se pěkně Franku hat gar keine Berechtigung. Das sind die Sätze. Könntest Du Milena sie irgendwie zurücknehmen, ausdrücklich zurücknehmen, den ersten, wenn Du willst, nur zu einem Teil, den zweiten aber ganz?


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Den Brief des Vaters habe ich heute früh beizuschließen vergessen, verzeih. Übrigens habe ich auch übersehn, dass es seit 3 Jahren der erste Brief ist, nun verstehe ich erst seinen Eindruck auf Dich. Dadurch wird aber allerdings auch Dein Brief an den Vater viel bedeutender, es muß doch grundsätzlich Neues darin gewesen sein.

Nebenbei: Ich hatte Dich immer dahin mißverstanden, dass Dein Vater und Dein Mann niemals mit einander gesprochen haben. Staša aber erwähnte, dass sie öfters mit einander gesprochen haben. Was mag da wohl gesprochen worden sein?


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Ja, noch ein dritter Satz steht in Deinem Brief, der vielleicht noch mehr gegen mich gerichtet ist, als die angeführten. Der Satz von dem magen-verderbenden Zuckerzeug.


Donnerstag

Heute ist also, und überdies unerwartet, der solange schon gefürchtete brieflose Tag. So ernst war also Dein Montagsbrief gemeint, dass Du nächsten Tag nicht schreiben konntest. Nun ich habe doch Dein Telegramm als Halt.


am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von ich selbst bis schon, da): Ich bin gar nicht gegen Deine Urlaubsreise. Wie könnte ich das sein und warum glaubst Du das?


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at