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An Milena Jesenská

[Prag, 2. August 1920]
Montag
 

Aber nach dem Fahrplan ist es ja viel besser noch als ich dachte, hoffentlich stimmt der Fahrplan, also so ist es:

I. Möglichkeit, die viel schlechtere: Ich fahre um 4.12 Samstag nachmittag hier weg, bin 11.10 abends in Wien, wir haben Stunden für uns, denn ich fahre Sonntag früh um Uhr weg. Die Voraussetzung der 7 Stunden ist allerdings dass ich die Nacht vorher (keine leichte Aufgabe) ein wenig geschlafen habe, sonst hast Du vor Dir nur ein armes krankes Tier.

II. Möglichkeit, die durch den Fahrplan geradezu prachtvoll geworden ist: Ich fahre auch 4.12 von hier fort, bin aber schon (schon! schon!) 7.28-abend in Gmünd. Selbst wenn ich Sonntag mit dem Vormittagsschnellzug wegfahre ist es erst um 10.46, wir haben also über 15 Stunden, von denen wir auch einige schlafen können. Aber es wird noch besser. Ich muß nicht einmal mit diesem Zug fahren, nachmittag um 4.38 fährt noch ein Personenzug nach Prag, mit dem würde ich also fahren. Das wären also 21 gemeinsame Stunden und die können wir (bedenke!) wenigstens theoretisch, jede Woche haben.

Es ist nur ein Haken dabei, ich glaube aber kein ernstlicher, jedenfalls müßtest Du Dich danach erkundigen. Der Gmündner Bahnhof ist nämlich tschechisch, die Stadt österreichisch; sollte die Paßdummheit so weit getrieben werden, dass ein Wiener zum Passieren des tschechischen Bahnhofes einen Paß braucht? Dann müßten aber doch auch die Gmündner die nach Wien fahren, einen Paß mit tschechischem Visum haben, das kann ich doch nicht glauben, das wäre ja geradezu gegen uns gerichtet [. . .][ ca. 10 Wörter unleserlich gemacht]. Es ist ja schon schlimm genug, dass ich vielleicht eine Stunde lang auf die Zollrevision in Gmünd werde warten müssen, ehe ich aus dem Bahnhof darf und die 21 Stunden werden dadurch verkleinert.


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Anschließend an diese großen Dinge ist allerdings nichts zu schreiben. Vielen Dank jedenfalls dass Du mich auch heute nicht ohne Brief gelassen hast, aber morgen? Telephonieren werde ich nicht weil es erstens zu aufregend ist und zweitens unmöglich ist (ich habe mich schon einmal erkundigt) und weil wir uns drittens [. . . ] [ein oder mehrere Wörter unleserlich gemacht]bald sehen werden. Leider hatte Ottla heute keine Zeit wegen des Passes zur Polizeidirektion zu gehn, morgen. Ja, mit den Marken machst Du es ausgezeichnet (leider habe ich die Expressbriefmarken irgendwo verlegt, der Mann hat fast zu weinen angefangen, als ich es ihm sagte). Den Dank für meine Marken hast Du Dir allerdings ein wenig leicht gemacht, aber mich freut auch das undzwar so, dass ich Dir noch, denke, Legionärsmarken schicken werde. Zum Märchen erzählen habe ich heute keine Lust. Mein Kopf ist wie ein Bahnhof, Züge fahren ab, fahren ein, Zollrevision, der Ober-Grenz-Inspektor lauert auf mein Visum, aber diesmal ist es richtig, bitte, hier ist es; "ja, es ist gut, hier geht es aus dem Bahnhof hinaus." "Bitte Herr Ober-Grenz-Inspektor, wären Sie noch so freundlich die Tür mir aufzumachen, ich kann sie nicht aufmachen. Bin ich vielleicht so schwach, weil [. . .][2 Wörter unleserlich gemacht ] Milena draußen wartet?" "O bitte" sagt er "das habe ich ja nicht gewußt." Und die Tür fliegt auf -

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at