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An Milena Jesenská
Augenblicklich bin ich zerstreut und traurig, ich habe Dein Telegramm verloren
d. h. es kann nicht verloren sein, aber schon dass ich es suchen muß,
ist arg genug. Obrigens bist nur Du schuld daran; wäre es nicht so
schön gewesen, hätte ich es nicht immerfort in Händen gehabt.
Nur was Du vom Arzt sagst tröstet mich. Also das Blut hat nichts zu
bedeuten gehabt, nun ich sagte es ja als Vermutung auch, ich alter Mediciner.
Nun, was sagt er von dem Lungendefekt? Hungern und Koffertragen hat er
gewiß nicht verschrieben. Und dass Du mir weiter gut sein sollst,
hat er zugestimmt? Oder wurde von mir gar nicht gesprochen? Ja aber wie
kann ich mich zufrieden geben, wenn der Arzt keine Spur von mir gefunden
hat? Oder sollte es mein Defekt sein, den er in Deiner Lunge gefunden hat?
Und es ist wirklich nicht schlimm? Und er hat nichts zu sagen, als Dich
für 4 Wochen auf das Land zu schikken? Das ist doch eigentlich sehr
wenig.
Nein, ich habe gegen die Reise nicht viel mehr als gegen das Wiener Leben.
Fahre nur weg, bitte, fahre. Irgendwo schriebst Du von der Hoffnung, die
Du auf die Fahrt setzt; das ist auch Grund genug für mich sie zu wünschen.
Die Reise nach Wien, nochmals. Wenn Du ernst davon schreibst, ist es am
schlimmsten, dann fängt der Boden hier wirklich zu schaukeln an und
ich lauere darauf, ob er mich auswirft. Er tut es nicht. Von dem äußern
Hindernis - von den innern will ich nicht reden, denn trotzdem sie stärker
sind, sie würden mich, glaube ich, nicht halten, nicht weil ich stark
bin, sondern weil ich zu schwach bin, mich von ihnen halten zu lassen -
habe ich schon geschrieben, ich könnte die Reise nur durch eine Lüge
ermöglichen und vor der Lüge fürchte ich mich, nicht wie
ein Ehrenmann, sondern wie ein Schüler. Und außerdem habe ich
das Gefühl oder ahne wenigstens die Möglichkeit, dass ich
einmal meinet- oder Deinetwegen unbedingt, unvermeidbar nach Wien werde
fahren müssen, zum zweitenmal aber könnte ich auch als leichtsinniger
Schüler nicht lügen. Diese Möglichkeit der Lüge ist
also meine Reserve, von ihr lebe ich, wie von Deinem Versprechen des sofortigen
Kommens. Deshalb werde ich jetzt nicht kommen; statt der Gewißheit
dieser 2 Tage - bitte beschreib sie nicht Milena damit folterst Du mich
ja fast, die Not ist es noch nicht, aber eine Bedürftigkeit ohne Grenzen-habe
ich ihre fortwährende Möglichkeit.
Und die Blumen? Sie sind natürlich schon verwelkt? Sind Dir schon
einmal Blumen in die "unrechte Kehle" gekommen, wie mir diese?
Das ist nämlich sehr unangenehm.
In den Kampf zwischen Dir und Max menge ich mich nicht ein. Ich bleibe
zur Seite, gebe jedem sein Recht und bin in Sicherheit. Du hast unzweifelhaft
Recht in dem was Du sagst, aber nun wechseln wir den Platz. Du hast Deine
Heimat und kannst auf sie auch verzichten und es ist vielleicht auch das
Beste was man mit der Heimat tun kann, besonders da man auf das was an
ihr unverzichtbar ist, eben nicht verzichtet. Er aber hat keine Heimat
und kann deshalb auch auf nichts verzichten und muß immerfort daran
denken, sie zu suchen oder zu bauen, immerfort ob er den Hut vom Nagel
nimmt oder auf der Schwimmschule in der Sonne liegt oder das von Dir zu
übersetzende Buch schreibt (hier ist er vielleicht noch am wenigsten
gespannt - aber Du Arme, Liebe, wieviel Arbeit bürdest Du Dir auf
aus Schuldbewußtsein, ich sehe Dich über die Arbeit gebeugt,
der Hals ist frei, ich stehe hinter Dir, Du weißt es nicht - bitte
erschrick nicht, wenn Du meine Lippen am Nacken fühlst, ich wollte
nicht küssen, es ist nur hilflose Liebe) - ja Max, also, immerfort
muß er daran denken auch wenn er Dir schreibt.
Und merkwürdig wie Du trotzdem Dich im Ganzen richtig gegen ihn wehrst,
im Einzelnen ihm unterliegst. Er hat offenbar vom Wohnen bei den Eltern
und von Davos geschrieben. Beides unrichtig. Gewiß das Wohnen bei
den Eltern ist sehr schlecht, aber nicht nur das Wohnen, das Leben das
Hinsinken in diesem Kreis der Güte, der Liebe, ja Du kennst den
Vaterbrief nicht, das Rütteln der Fliege an der Leimrute, übrigens
hat auch das gewiß sein Gutes, einer kämpft eben bei Marathon,
der andere im Speisezimmer, der Kriegsgott und die Siegesgöttin sind
überall. Aber das mechanische Wegübersiedeln, was sollte das
für einen Zweck haben, gar wenn ich zuhause essen würde, wo es
doch augenblicklich gewiß für mich am besten ist. Über
Davos nächstens. Das einzige was ich von Davos gelten lasse, ist der
Kuß bei der Abreise.
am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Leben. Fahre):
Lese ich recht? Ist ein großes T auf dem Couvert? Der Stempel ist
gerade darüber und so weiß ich es nicht genau.
am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab Buch schreibt):
Ja bitte schick mir das Unglücklichsein, ich wollte
Dich schon darum bitten. In der Tribuna es suchen lassen, ist unangenehm.
1] Vaterbrief: Vgl. Brief vom [21. Juni 1920],
Anm. 1.
2] Unglücklichsein: Kafkas Prosastück
"Unglücklichsein" war am 16. Juli 1920 unter dem Titel
"Nešt'astný" in der "Tribuna" erschienen.
Vgl. Brief vom [21. Juli 1920] Mittwoch, Anm. 1.
Samstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at