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An Milena Jesenská
Kennst Du Casanovas Flucht aus den Bleikammern? Ja, Du kennst es. Dort
ist flüchtig die schrecklichste Art der Kerkerung beschrieben unten
im Keller, im. Dunkel, im Feuchten, in der Höhe der Lagunen, man hockt
auf einem schmalen Brett, das Wasser reicht fast heran, steigt mit der
Flut auch wirklich hinauf, das schlimmste aber sind die wilden Wasserratten,
ihr Geschrei in der Nacht, ihr Zerren, Reißen und Nagen (man kämpft
mit ihnen um das Brot glaube ich) und vor allem ihr ungeduldiges Warten
bis man entkräftet von dem Brettchen hinunterfällt. Weißt
Du, so sind die Geschichten in dem Brief. Schrecklich und unverständlich
und vor allem so nah und fern wie die eigene Vergangenheit. Und man hockt
oben und davon wird der Rücken auch nicht am allerschönsten und
auch die Füße verkrampfen sich und man hat Angst und hat doch
nichts anderes zu tun als die großen dunklen Ratten anzusehn und
sie blenden einen mitten in der Nacht und schließlich weiß
man nicht ob man noch oben sitzt oder schon unten ist und pfeift und das
Mäulchen aufreißt mit den Zähnen drin. Geh, erzähle
nicht solche Geschichten, komm her, was soll das, komm her. Diese "Tierchen"
schenk ich Dir, aber nur unter der Bedingung, dass Du sie wegjagst
aus dem Haus.
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Und vom Arzt wird überhaupt nicht mehr gesprochen? Und Du hast doch
ausdrücklich versprochen dass Du zum Arzt gehst und Du hältst
doch immer Dein Wort. Weil Du kein Blut mehr siehst, gehst Du nicht? Ich
führe mich nicht als Beispiel für Dich an, Du bist unvergleichlich
gesünder als ich, ich werde immer nur der Herr sein, der sich den
Koffer tragen läßt (was aber noch keinen Rangunterschied bedeutet,
denn zuerst kommt der Herr, der den Gepäckträger herwinkt, dann
kommt der Träger, und dann erst der Herr, der den Träger bittet
den Koffer zu tragen, weil er sonst umfällt; als ich letzthin - letzthin!
- vom Bahnhof nachhausegieng fing der Dienstmann, der meinen Koffer trug,
ohne dass ich eigentlich etwas Diesbezügliches gesagt hatte,
aus Eigenem mich zu trösten an: ich verstehe sicher Sachen die wieder
er nicht zustandebringe und das Tragen sei seine Aufgabe und das mache
ihm gar nichts u. s. f. , nun gierigen mir ja Dinge durch den Kopf, auf
die das die (durchaus unzulängliche) Antwort war, aber deutlich gesagt
hatte ich sie nicht) - ja, also ich vergleiche mich darin nicht mit Dir,
aber denken muß ich doch daran wie es mir gierig und das Denken macht
Sorgen und Du sollst zum Arzt gehn. Das war wohl vor 3 Jahren,
niemals war ich lungenkrank gewesen, nichts machte mich müde, gehn
konnte ich endlos, an die Grenze meiner Kraft bin ich damals im Gehn nie
gekommen (im Denken damals allerdings immerfort) und plötzlich im
August etwa - also heiß war es, schön, alles außer meinem
Kopf war in Ordnung - spuckte ich auf der Civilschwimmschule etwas Rotes
aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht? Ich sah es ein Weilchen
an und vergaß es gleich. Und dann geschah es öfters und überhaupt
wann ich ausspucken wollte brachte ich das Rot zustande, es lag ganz in
meinem Belieben. Da war es nicht mehr interessant sondern langweilig und
ich vergaß es wieder. Wäre ich damals gleich zum Arzt gegangen
- nun so wäre alles wahrscheinlich genau so gewesen, wie es ohne den
Arzt geworden ist, nur wußte aber damals niemand von dem Blut, eigentlich
auch ich nicht, und niemand hatte Sorgen. Jetzt hat aber jemand Sorgen,
also bitte, geh zum Arzt.
Merkwürdig dass Dein Mann sagt, er werde mir schreiben das und
das. Und schlagen und würgen? Ich verstehe das wirklich nicht. Ich
glaube Dir natürlich vollständig, aber es ist mir so sehr unmöglich
es mir vorzustellen, dass ich gar nichts dabei fühle, so wie
wenn es eine ganz fremde ferne Geschichte wäre. So wie wenn Du hier
wärest und sagtest: "Jetzt in diesem Augenblick bin ich in Wien
und es wird geschrien und so." Und wir würden beide aus dem
Fenster gegen Wien hin schauen und natürlich wäre nicht der geringste
Anlaß für irgendeine Aufregung.
Aber doch etwas: Vergißt Du nicht manchmal wenn Du von der Zukunft
sprichst, dass ich Jude bin? (jasná, nezapletená) [klar,
unkompliziert]. Gefährlich bleibt es, das Judentum, selbst zu Deinen
Füßen.
am linken und am oberen Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bisMäulchen
aufreißt): Auf diesen Briefen war das Trotzdem wirklich nötig;
ist es aber nicht auch als Wort schön? Im "trotz" stößt
man zusammen, da ist noch "Welt" da, in "dem" versinkt
man, dann ist nichts mehr.
am linken und am oberen Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab
sondern langweilig): Warum mischt Du Jílovský auch in die
Geschichten? Ich habe da vor mir auf dem Fließblatt noch eine Dich
betreffende Zeichnung mit Blaustift von ihm.
1] wohl vor 3 Jahren: Kafka berichtet hier über
die ersten Anzeichen seiner Lungentuberkulose im August 1917. Vgl. auch
"Briefe an Felice", S. 753 f.
Mittwoch
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at