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An Milena Jesenská

[Prag, 28. Juli 1920]
Mittwoch
 

Kennst Du Casanovas Flucht aus den Bleikammern? Ja, Du kennst es. Dort ist flüchtig die schrecklichste Art der Kerkerung beschrieben unten im Keller, im. Dunkel, im Feuchten, in der Höhe der Lagunen, man hockt auf einem schmalen Brett, das Wasser reicht fast heran, steigt mit der Flut auch wirklich hinauf, das schlimmste aber sind die wilden Wasserratten, ihr Geschrei in der Nacht, ihr Zerren, Reißen und Nagen (man kämpft mit ihnen um das Brot glaube ich) und vor allem ihr ungeduldiges Warten bis man entkräftet von dem Brettchen hinunterfällt. Weißt Du, so sind die Geschichten in dem Brief. Schrecklich und unverständlich und vor allem so nah und fern wie die eigene Vergangenheit. Und man hockt oben und davon wird der Rücken auch nicht am allerschönsten und auch die Füße verkrampfen sich und man hat Angst und hat doch nichts anderes zu tun als die großen dunklen Ratten anzusehn und sie blenden einen mitten in der Nacht und schließlich weiß man nicht ob man noch oben sitzt oder schon unten ist und pfeift und das Mäulchen aufreißt mit den Zähnen drin. Geh, erzähle nicht solche Geschichten, komm her, was soll das, komm her. Diese "Tierchen" schenk ich Dir, aber nur unter der Bedingung, dass Du sie wegjagst aus dem Haus.


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Und vom Arzt wird überhaupt nicht mehr gesprochen? Und Du hast doch ausdrücklich versprochen dass Du zum Arzt gehst und Du hältst doch immer Dein Wort. Weil Du kein Blut mehr siehst, gehst Du nicht? Ich führe mich nicht als Beispiel für Dich an, Du bist unvergleichlich gesünder als ich, ich werde immer nur der Herr sein, der sich den Koffer tragen läßt (was aber noch keinen Rangunterschied bedeutet, denn zuerst kommt der Herr, der den Gepäckträger herwinkt, dann kommt der Träger, und dann erst der Herr, der den Träger bittet den Koffer zu tragen, weil er sonst umfällt; als ich letzthin - letzthin! - vom Bahnhof nachhausegieng fing der Dienstmann, der meinen Koffer trug, ohne dass ich eigentlich etwas Diesbezügliches gesagt hatte, aus Eigenem mich zu trösten an: ich verstehe sicher Sachen die wieder er nicht zustandebringe und das Tragen sei seine Aufgabe und das mache ihm gar nichts u. s. f. , nun gierigen mir ja Dinge durch den Kopf, auf die das die (durchaus unzulängliche) Antwort war, aber deutlich gesagt hatte ich sie nicht) - ja, also ich vergleiche mich darin nicht mit Dir, aber denken muß ich doch daran wie es mir gierig und das Denken macht Sorgen und Du sollst zum Arzt gehn. Das war wohl vor 3 Jahren, niemals war ich lungenkrank gewesen, nichts machte mich müde, gehn konnte ich endlos, an die Grenze meiner Kraft bin ich damals im Gehn nie gekommen (im Denken damals allerdings immerfort) und plötzlich im August etwa - also heiß war es, schön, alles außer meinem Kopf war in Ordnung - spuckte ich auf der Civilschwimmschule etwas Rotes aus. Das war merkwürdig und interessant, nicht? Ich sah es ein Weilchen an und vergaß es gleich. Und dann geschah es öfters und überhaupt wann ich ausspucken wollte brachte ich das Rot zustande, es lag ganz in meinem Belieben. Da war es nicht mehr interessant sondern langweilig und ich vergaß es wieder. Wäre ich damals gleich zum Arzt gegangen - nun so wäre alles wahrscheinlich genau so gewesen, wie es ohne den Arzt geworden ist, nur wußte aber damals niemand von dem Blut, eigentlich auch ich nicht, und niemand hatte Sorgen. Jetzt hat aber jemand Sorgen, also bitte, geh zum Arzt.


 


Merkwürdig dass Dein Mann sagt, er werde mir schreiben das und das. Und schlagen und würgen? Ich verstehe das wirklich nicht. Ich glaube Dir natürlich vollständig, aber es ist mir so sehr unmöglich es mir vorzustellen, dass ich gar nichts dabei fühle, so wie wenn es eine ganz fremde ferne Geschichte wäre. So wie wenn Du hier wärest und sagtest: "Jetzt in diesem Augenblick bin ich in Wien und es wird geschrien und so." Und wir würden beide aus dem Fenster gegen Wien hin schauen und natürlich wäre nicht der geringste Anlaß für irgendeine Aufregung.

Aber doch etwas: Vergißt Du nicht manchmal wenn Du von der Zukunft sprichst, dass ich Jude bin? (jasná, nezapletená) [klar, unkompliziert]. Gefährlich bleibt es, das Judentum, selbst zu Deinen Füßen.


am linken und am oberen Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bisMäulchen aufreißt): Auf diesen Briefen war das Trotzdem wirklich nötig; ist es aber nicht auch als Wort schön? Im "trotz" stößt man zusammen, da ist noch "Welt" da, in "dem" versinkt man, dann ist nichts mehr.


am linken und am oberen Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab sondern langweilig): Warum mischt Du Jílovský auch in die Geschichten? Ich habe da vor mir auf dem Fließblatt noch eine Dich betreffende Zeichnung mit Blaustift von ihm.




1] wohl vor 3 Jahren: Kafka berichtet hier über die ersten Anzeichen seiner Lungentuberkulose im August 1917. Vgl. auch "Briefe an Felice", S. 753 f.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at