Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 27. Juli 1920]
Dienstag
 

Wo ist der Arzt? Ich suche den Brief durch ohne ihn zu lesen nur um den Arzt zu suchen. Wo ist er?

Ich schlafe nicht; ich will nicht sagen dass ich deshalb nicht schlafe, wirkliche Sorgen lassen den Unmusikalischen eher schlafen als anderes, aber doch schlafe ich nicht. Ist es schon zu lange her seit der Wiener Reise? Habe ich mein Glück zu sehr gelobt? Hilft Milch und Butter und Salat nichts und brauche ich die Nahrung Deiner Gegenwart? Wahrscheinlich ist es keiner dieser Gründe, aber die Tage sind nicht schön. Auch habe ich das Glück der leeren Wohnung seit 3 Tagen nicht mehr, ich wohne zuhause, (deshalb bekam ich auch gleich das Telegramm.) Es ist vielleicht gar nicht die Leere der Wohnung, die mir so gut tut, oder nicht hauptsächlich sie, sondern der Besitz zweier Wohnungen überhaupt, eine Wohnung für den Tag und eine andere entfernte für Abend und Nacht. Verstehst Du das? Ich nicht, aber es ist so.

Ja, der Schrank. Um den wird wohl unser erster und letzter Streit gehn. Ich werde sagen: "Wir werfen ihn hinaus." Du wirst sagen: "Er bleibt." Ich werde sagen: "Wähle zwischen mir und ihm." Du wirst sagen: "Gleich. Frank und Schrank, es reimt sich. Ich wähle den Schrank." "Gut" werde ich sagen und langsam die Treppe (welche?) hinuntergehn und - wenn ich den Donaukanal noch nicht gefunden habe, lebe ich noch heute.

Und im übrigen bin ich ja sehr für den Schrank, nur das Kleid solltest Du nicht tragen. Du wirst es ja ganz abnützen und was bleibt mir dann?

Merkwürdig, das Grab. An der Stelle habe ich es ja eigentlich (vlastně) [eigentlich] gesucht, aber nur schüchtern, dagegen sehr sicher größere und größere und endlich ungeheuere Kreise darum gezogen und schließlich eine ganz andere Kapelle für die richtige gehalten.

Du fährst also weg und das Visum hast Du auch nicht. Und die Sicherheit, dass Du in der Not gleich kämest, ist damit verloren. Und nun willst Du auch noch dass ich schlafe.

[. . . ] [aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes gestrichen]

 

 

 

 

Und der Arzt? Wo ist er? Noch immer ist er nicht da?

Besondere Kongreßmarken gab es nicht, ich glaubte auch, es hätte solche gegeben. Zu meiner Enttäuschung bringt man mir heute die " Kongreßmarken", es sind gewöhnliche Marken nur mit dem Kongreßstempel; trotzdem sollen sie eben wegen dieses Stempels recht kostbar sein, aber das wird ja der Junge nicht verstehn. Ich werde immer nur eine Marke beilegen, erstens wegen ihrer Kostbarkeit und zweitens um jeden Tag einen Dank zu bekommen.

Siehst Du, Du brauchst eine Feder, warum haben wir die Zeit in Wien nicht besser ausgenützt? Warum blieben wir z. B. nicht immerfort in dem Papierladen, es war doch so schön dort und wir waren einander so nah.

Und dem Schrank hast Du doch die dummen Späße nicht vorgelesen? Ich liebe doch ganz ohnmächtig fast alles was in Deinem Zimmer steht.

Und der Arzt?

Du siehst den Markensammler öfters? Keine hinterlistige Frage, trotzdem es so aussieht. Wenn man schlecht geschlafen hat, fragt man und weiß nicht was. Ewig wollte man fragen, Nicht-Schlafen heißt ja fragen; hätte man die Antwort, schliefe man.


----------


Und diese Unzurechnungsfähigkeits-Erklärung ist doch eigentlich sehr arg. Den Paß hast Du doch bekommen?




1] das Grab: Das schon früher erwähnte Grab von Milenas Bruder Jeníček; vgl. Brief vom [19. Juli 1920], Anm. 8.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at