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An Milena Jesenská
Wo ist der Arzt? Ich suche den Brief durch ohne ihn zu lesen nur um den
Arzt zu suchen. Wo ist er?
Ich schlafe nicht; ich will nicht sagen dass ich deshalb nicht schlafe,
wirkliche Sorgen lassen den Unmusikalischen eher schlafen als anderes,
aber doch schlafe ich nicht. Ist es schon zu lange her seit der Wiener
Reise? Habe ich mein Glück zu sehr gelobt? Hilft Milch und Butter
und Salat nichts und brauche ich die Nahrung Deiner Gegenwart? Wahrscheinlich
ist es keiner dieser Gründe, aber die Tage sind nicht schön.
Auch habe ich das Glück der leeren Wohnung seit 3 Tagen nicht mehr,
ich wohne zuhause, (deshalb bekam ich auch gleich das Telegramm.) Es ist
vielleicht gar nicht die Leere der Wohnung, die mir so gut tut, oder nicht
hauptsächlich sie, sondern der Besitz zweier Wohnungen überhaupt,
eine Wohnung für den Tag und eine andere entfernte für Abend
und Nacht. Verstehst Du das? Ich nicht, aber es ist so.
Ja, der Schrank. Um den wird wohl unser erster und letzter Streit gehn.
Ich werde sagen: "Wir werfen ihn hinaus." Du wirst sagen: "Er
bleibt." Ich werde sagen: "Wähle zwischen mir und ihm."
Du wirst sagen: "Gleich. Frank und Schrank, es reimt sich. Ich wähle
den Schrank." "Gut" werde ich sagen und langsam die Treppe
(welche?) hinuntergehn und - wenn ich den Donaukanal noch nicht gefunden
habe, lebe ich noch heute.
Und im übrigen bin ich ja sehr für den Schrank, nur das Kleid
solltest Du nicht tragen. Du wirst es ja ganz abnützen und was bleibt
mir dann?
Merkwürdig, das Grab. An der Stelle habe ich es ja
eigentlich (vlastně) [eigentlich] gesucht, aber nur schüchtern,
dagegen sehr sicher größere und größere und endlich
ungeheuere Kreise darum gezogen und schließlich eine ganz andere
Kapelle für die richtige gehalten.
Du fährst also weg und das Visum hast Du auch nicht. Und die Sicherheit,
dass Du in der Not gleich kämest, ist damit verloren. Und
nun willst Du auch noch dass ich schlafe.
[. . . ] [aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes gestrichen]
Und der Arzt? Wo ist er? Noch immer ist er nicht da?
Besondere Kongreßmarken gab es nicht, ich glaubte auch, es hätte
solche gegeben. Zu meiner Enttäuschung bringt man mir heute die "
Kongreßmarken", es sind gewöhnliche Marken nur mit dem
Kongreßstempel; trotzdem sollen sie eben wegen dieses Stempels recht
kostbar sein, aber das wird ja der Junge nicht verstehn. Ich werde immer
nur eine Marke beilegen, erstens wegen ihrer Kostbarkeit und zweitens um
jeden Tag einen Dank zu bekommen.
Siehst Du, Du brauchst eine Feder, warum haben wir die Zeit in Wien nicht
besser ausgenützt? Warum blieben wir z. B. nicht immerfort in dem
Papierladen, es war doch so schön dort und wir waren einander so nah.
Und dem Schrank hast Du doch die dummen Späße nicht vorgelesen?
Ich liebe doch ganz ohnmächtig fast alles was in Deinem Zimmer steht.
Und der Arzt?
Du siehst den Markensammler öfters? Keine hinterlistige Frage, trotzdem
es so aussieht. Wenn man schlecht geschlafen hat, fragt man und weiß
nicht was. Ewig wollte man fragen, Nicht-Schlafen heißt ja fragen;
hätte man die Antwort, schliefe man.
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Und diese Unzurechnungsfähigkeits-Erklärung ist doch eigentlich
sehr arg. Den Paß hast Du doch bekommen?
1] das Grab: Das schon früher erwähnte
Grab von Milenas Bruder Jeníček; vgl. Brief vom [19. Juli 1920],
Anm. 8.
Dienstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at