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An Milena Jesnská

[Prag, 26. Juli 1920]
Montag
 

Also das Telegramm war keine Antwort, aber der Donnerstagabend-briefist es. Also das Nicht-Schlafen war sehr richtig und die entsetzliche Traurigkeit heute früh war sehr richtig. Weiß Dein Mann von dem Blut? Man muß es ja nicht übertreiben, es ist vielleicht gar nichts, Blut kommt mancherlei, aber es ist doch Blut und vergessen kann man es nicht. Und Du lebst ja darauf hin, Dein heldenhaft fröhliches Leben, Du lebst ja, als redetest Du dem Blut zu: "Also komm doch, komm doch endlich." Und dann kommt es eben. Und was ich hier machen soll, darum kümmerst Du Dich gar nicht und natürlich bist Du kein nemluvně [kleines Kind, Säugling] und weißt was Du tust, aber Du willst es so, dass ich hier am Prager Ufer stehe und Du gehst mir vor den Augen im Wiener Meer unter, mit Willen. Und wenn Du nichts zum Essen hast, so ist das nicht ein Bedürfnis pro sebe [an sich]? Oder meinst Du dass es eher mein Bedürfnis ist als Deines? Nun, dann hast Du auch recht. Und Geld werde ich leider Dir nicht mehr schicken können, denn mittag gehe ich nachhause und stopfe das unnütze Geld in den Küchenofen.

So sind wir also gänzlich auseinandergekommen Milena und nur den einen Wunsch scheinen wir mit aller Kraft gemeinsam zu haben, dass Du hier wärst und Dein Gesicht irgendwo so nahe bei mir als nur möglich. Und natürlich auch den Sterbe-Wunsch, den Wunsch dieses "bequemen" Sterbens haben wir gemeinsam, aber das ist doch eigentlich schon ein Wunsch kleiner Kinder, so wie ich mir etwa in der Rechenstunde, wenn ich den Professor oben in seinem Notizbuch blättern und wahrscheinlich meinen Namen suchen sah und mit diesem Anblick von Kraft, Schrecken und Wirklichkeit mein unfaßbares Nichts von Kenntnissen verglich, halb träumend vor Angst wünschte, ich könnte geisterhaft aufstehn, geisterhaft den Weg zwischen den Bänken durchlaufen, leicht wie mein mathematisches Wissen am Professor vorüberfliegen, die Tür irgendwie durchdringen, draußen mich sammeln und nun frei sein an der schönen Luft, die auf der ganzen mir bekannten Welt nicht solche Spannungen enthielt wie dort in dem Zimmer. Ja, das wäre "bequem" gewesen. Aber so wurde es nicht. Ich wurde hinausgerufen, bekam eine Aufgabe, zur Lösung brauchte man ein Logarithmenbuch, ich hatte es vergessen, log aber dass ich es in der Bank habe (denn ich glaubte der Professor werde mir seines borgen), wurde in die Bank zurückgeschickt es zu holen, merkte mit einem nicht einmal gespielten Erschrecken (Erschrecken mußte ich niemals in der Schule spielen) dass es nicht da war, und der Professor (vorgestern habe ich ihn getroffen) sagte mir: "Sie Krokodil!" Ich bekam gleich ein Nichtgenügend und das war eigentlich sehr gut, denn ich bekam es doch eigentlich nur formal und außerdem ungerecht (ich hatte zwar gelogen, aber niemand konnte es mir nachweisen, ist das ungerecht?), vor allem aber hatte ich mein schamloses Unwissen nicht zeigen müssen. Also war auch das im Ganzen noch recht "bequeme und man konnte unter günstigen Umständen also auch im Zimmer selbst "verschwinden" und die Möglichkeiten waren unendlich und man konnte auch im Leben "sterben".


So schwätze ich nur weil mir bei Dir gut ist trotz allem

in besonders großer Schrift quer über die zweite und dritte Briefseite (Doppelblatt); Beschriftung dieser Seiten von und stopfe bis Leben "sterben".


Nur eine Möglichkeit gibt es nicht - über allem Geschwätz ist das klar - dass Du jetzt hereinkommst und dabist und wir über Dein Gesundwerden mit aller Gründlichkeit sprechen und doch wäre gerade diese Möglichkeit die dringendste.


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Vieles wollte ich Dir heute sagen, ehe ich die Briefe gelesen hatte, aber was läßt sich sagen gegenüber dem Blut? Bitte schreib mir gleich was der Arzt gesagt hat und was ist es für ein Mann?

Die Bahnhofszene beschreibst Du unrichtig, ich zögerte keinen Augenblick, es war alles so selbstverständlich traurig und schön und wir waren so allein, dass es eine unbegreifliche Komik hatte, wie die Leute, die doch nicht dort waren, plötzlich aufbegehrten und die Perrontür geöffnet haben wollten.

Aber vor dem Hotel war es freilich so wie Du sagst. Wie schön warst Du dort! Vielleicht warst Du es gar nicht. Es wäre doch auch sehr merkwürdig gewesen, wenn Du so bald schon aufgestanden wärest. Aber wenn Du es nicht warst, woher weißt Du so genau, wie es gewesen ist.

Gut, dass Du Marken willst, zwei Tage mache ich mir Vorwürfe wegen meiner Markenbitte, schon als ich sie aufschrieb machte ich mir Vorwürfe.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at