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An Milena Jesenská

[Prag, 24. Juli 1920]
Samstag
 

Eine halbe Stunde wohl lese ich schon die 2 Briefe und die Karte (den Briefumschlag nicht zu vergessen, ich wundere mich dass nicht die ganze Einlaufs-Abteilung heraufkommt und für Dich um Verzeihung bittet) und merke erst jetzt dass ich die ganze Zeit über lache. Gieng es eigentlich einem Kaiser in der Weltgeschichte schon besser? Er kommt in sein Zimmer und da liegen schon die 3 Briefe und er hat nichts zu tun als sie aufzumachen - die langsamen Finger! - sich zurückzulehnen und - nicht glauben zu können dass es ihm geschieht, dieses Glück.

Nein, nicht immer habe ich gelacht, über das Gepäcktragen sage ich nichts, ich kann es nämlich nicht glauben und wenn ich es glaube kann ich es mir nicht vorstellen und wenn ich es mir vorstellen kann, bist Du so schön -nein das war nicht mehr Schönheit, es war eine Verirrung des Himmels - wie am "Sonntag" und ich verstehe den "Herrn" (er gab wohl 20 K und ließ sich 3 K zurückgeben). Aber glauben kann ich es doch nicht und wenn es doch geschehen sein sollte, gebe ich zu, dass es ebenso schrecklich wie großartig gewesen ist. Aber dass Du nichts ißt und Hunger hast (während ich hier ohne jeden Hunger überfüttert werde bis über den Rand) und dass Du Ringe unter den Augen hast (die können doch nicht einretouehiert sein, sie nehmen mir die halbe Freude an dem Bild, es bleibt allerdings noch genug., für die ich Dir solange die Hand küssen wollte, dass Du in diesem Leben nicht mehr dazu kämest zu übersetzen oder Gepäck von der Bahn zu tragen) - das also kann ich Dir nicht verzeihn und verzeihe es Dir niemals und noch wenn wir einmal in 100 Jahren vor unserer Hütte sitzen werden, werde ich Dir deshalb Vorwürfe vormummeln. Nein, ich spaße nicht. Was ist denn das für ein Widerspruch, Du behauptest mich gern zu haben, also für mich zu sein und hungerst gegen mich und hier liegt das überflüssige Geld und dort steht der Weiße Hahn.

Was Du über den Brief des Mädchens sagst verzeihe ich ausnahmsweise weil Du mich (endlich!) Sekretär nennst (ich heiße tajemník[Sekretär], weil es sehr Tajemná [geheimnisvoll] ist, was ich hier seit 3 Wochen arbeite) und auch sonst hast Du ja Recht. Aber genügt es Recht zu haben? Und vor allem: ich habe nicht recht, willst Du also nicht auch ein wenig - es geht ja nicht, ich weiß, es handelt sich nur um den Willen - von meinem Unrecht tragen dadurch, dass Du über den gleichgültigen Brief des Mädchens hinwegliest und mein Unrecht herausliest, das ja dort in großmächtigen Buchstaben steht? Im übrigen will ich ja gern nichts mehr von dem Briefwechsel hören, den ich sinnloser Weise verschuldet habe. Deinen Briefhabe ich ihr wieder mit ein paar freundlichen Zeilen zurückgeschickt. Seitdem habe ich nichts gehört, eine Zusammenkunft vorzuschlagen konnte ich mich nicht überwinden, hoffentlich verläuft alles im Stillen und Guten.

Du verteidigst den Brief an Staša und ich habe Dir doch für ihn gedankt. Ich tue ganz gewiß den beiden Unrecht, immerfort, und ich werde mich doch vielleicht einmal dazu bringen ihnen nicht mehr Unrecht zu tun.

Du warst in Neu-Waldegg? Und ich bin so oft dort, merkwürdig, dass wir einander nicht getroffen haben. Ja Du steigst und laufst so schnell, Du wirst mir an den Augen vorübergehuscht sein, wie Du es ja auch in Wien gemacht hast. Was waren denn das für 4 Tage? Eine Göttin gierig aus dem Kino und eine kleine Gepäckträgerin stand auf dem Perron - und das sollen 4 Tage gewesen sein?


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Den Brief bekommt Max noch heute. Mehr als sich im Geheimen herauslesen ließ, habe ich nicht herausgelesen.

Ja, mit Landauer hast Du wirklich Unglück. Und im Deutschen kommt es Dir noch immer gut vor? Was hast Du daraus gemacht armes Kind (nicht Kindchen, bewahre!), gequält und verwirrt von meinen Briefen. Habe ich nicht Recht, dass Dich die Briefe stören? Aber was hilft das Recht haben? Wenn ich Briefe bekomme, habe ich immer Recht und alles, und wenn ich keine bekäme, hätte ich weder Recht noch Leben noch sonst etwas.

Ja nach Wien kommen!


Die Übersetzung schicke mir bitte, ich kann doch nicht genug von Dir in Händen halten.


Es ist da ein großer Briefmarkensammler, er reißt mir die Marken aus der Hand. Nun hat er von diesen 1 K Marken schon genug, aber er behauptet dass es noch andere gibt, breitere, schwarz-braune 2 K Marken. Ich denke: ich bekomme die Briefe, soll ich ihm nicht die Marken zu verschaffen suchen? Wenn Du also diese andern Kronenmarken oder auch irgendwelche breitere 2 K Marken verwenden könntest.




1] der Weiße Hahn: Das schon früher genannte Speiselokal. Vgl. Brief vom [15. Juli 1920], Anm. 1.


2] Landauer: Milena übersetzte den im Druck veröffentlichten Vortrag Gustav Landauers "Friedrich Hölderlin in seinen Gedichten", "Die Weißen Blätter" (Zürich), III. Jg. (1916), H. 6, S. 183-213. Ihre Übersetzung dieses Vortrags erschien in der literarischen Wochenschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 23-25 (19. August-2. September 1920). Sie läßt erkennen, dass Milena mit diesem Text, der selbst für deutsche Leser keine leichte Lektüre ist, ihre Schwierigkeiten hatte. Vgl. Brief vom [4. August 1920], Mittwoch, Anm. 3.


3] Briefmarkensammler: Der im weiteren noch mehrmals erwähnte Briefmarkensammler ist ein Kollege Kafkas in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at