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An Milena Jesenská
Eine halbe Stunde wohl lese ich schon die 2 Briefe und die Karte (den Briefumschlag
nicht zu vergessen, ich wundere mich dass nicht die ganze Einlaufs-Abteilung
heraufkommt und für Dich um Verzeihung bittet) und merke erst jetzt
dass ich die ganze Zeit über lache. Gieng es eigentlich einem
Kaiser in der Weltgeschichte schon besser? Er kommt in sein Zimmer und
da liegen schon die 3 Briefe und er hat nichts zu tun als sie aufzumachen
- die langsamen Finger! - sich zurückzulehnen und - nicht glauben
zu können dass es ihm geschieht, dieses Glück.
Nein, nicht immer habe ich gelacht, über das Gepäcktragen sage
ich nichts, ich kann es nämlich nicht glauben und wenn ich es glaube
kann ich es mir nicht vorstellen und wenn ich es mir vorstellen kann, bist
Du so schön -nein das war nicht mehr Schönheit, es war eine Verirrung
des Himmels - wie am "Sonntag" und ich verstehe den "Herrn"
(er gab wohl 20 K und ließ sich 3 K zurückgeben). Aber glauben
kann ich es doch nicht und wenn es doch geschehen sein sollte, gebe ich
zu, dass es ebenso schrecklich wie großartig gewesen ist. Aber
dass Du nichts ißt und Hunger hast (während ich hier ohne
jeden Hunger überfüttert werde bis über den Rand) und dass
Du Ringe unter den Augen hast (die können doch nicht einretouehiert
sein, sie nehmen mir die halbe Freude an dem Bild, es bleibt allerdings
noch genug., für die ich Dir solange die Hand küssen wollte,
dass Du in diesem Leben nicht mehr dazu kämest zu übersetzen
oder Gepäck von der Bahn zu tragen) - das also kann ich Dir nicht
verzeihn und verzeihe es Dir niemals und noch wenn wir einmal in 100 Jahren
vor unserer Hütte sitzen werden, werde ich Dir deshalb Vorwürfe
vormummeln. Nein, ich spaße nicht. Was ist denn das für ein
Widerspruch, Du behauptest mich gern zu haben, also für mich
zu sein und hungerst gegen mich und hier liegt das überflüssige
Geld und dort steht der Weiße Hahn.
Was Du über den Brief des Mädchens sagst verzeihe ich ausnahmsweise
weil Du mich (endlich!) Sekretär nennst (ich heiße tajemník[Sekretär],
weil es sehr Tajemná [geheimnisvoll] ist, was ich hier seit 3 Wochen
arbeite) und auch sonst hast Du ja Recht. Aber genügt es Recht zu
haben? Und vor allem: ich habe nicht recht, willst Du also nicht
auch ein wenig - es geht ja nicht, ich weiß, es handelt sich nur
um den Willen - von meinem Unrecht tragen dadurch, dass Du über
den gleichgültigen Brief des Mädchens hinwegliest und mein Unrecht
herausliest, das ja dort in großmächtigen Buchstaben steht?
Im übrigen will ich ja gern nichts mehr von dem Briefwechsel hören,
den ich sinnloser Weise verschuldet habe. Deinen Briefhabe ich ihr wieder
mit ein paar freundlichen Zeilen zurückgeschickt. Seitdem habe ich
nichts gehört, eine Zusammenkunft vorzuschlagen konnte ich mich nicht
überwinden, hoffentlich verläuft alles im Stillen und Guten.
Du verteidigst den Brief an Staša und ich habe Dir doch für ihn
gedankt. Ich tue ganz gewiß den beiden Unrecht, immerfort, und ich
werde mich doch vielleicht einmal dazu bringen ihnen nicht mehr Unrecht
zu tun.
Du warst in Neu-Waldegg? Und ich bin so oft dort, merkwürdig, dass
wir einander nicht getroffen haben. Ja Du steigst und laufst so schnell,
Du wirst mir an den Augen vorübergehuscht sein, wie Du es ja auch
in Wien gemacht hast. Was waren denn das für 4 Tage? Eine Göttin
gierig aus dem Kino und eine kleine Gepäckträgerin stand auf
dem Perron - und das sollen 4 Tage gewesen sein?
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Den Brief bekommt Max noch heute. Mehr als sich im Geheimen herauslesen
ließ, habe ich nicht herausgelesen.
Ja, mit Landauer hast Du wirklich Unglück. Und im
Deutschen kommt es Dir noch immer gut vor? Was hast Du daraus gemacht armes
Kind (nicht Kindchen, bewahre!), gequält und verwirrt von meinen Briefen.
Habe ich nicht Recht, dass Dich die Briefe stören? Aber was hilft
das Recht haben? Wenn ich Briefe bekomme, habe ich immer Recht und alles,
und wenn ich keine bekäme, hätte ich weder Recht noch Leben noch
sonst etwas.
Ja nach Wien kommen!
Die Übersetzung schicke mir bitte, ich kann doch nicht genug von Dir
in Händen halten.
Es ist da ein großer Briefmarkensammler, er
reißt mir die Marken aus der Hand. Nun hat er von diesen 1 K Marken
schon genug, aber er behauptet dass es noch andere gibt, breitere,
schwarz-braune 2 K Marken. Ich denke: ich bekomme die Briefe, soll
ich ihm nicht die Marken zu verschaffen suchen? Wenn Du also diese
andern Kronenmarken oder auch irgendwelche breitere 2 K Marken verwenden
könntest.
1] der Weiße Hahn: Das schon früher genannte
Speiselokal. Vgl. Brief vom [15. Juli 1920], Anm. 1.
2] Landauer: Milena übersetzte den im Druck
veröffentlichten Vortrag Gustav Landauers "Friedrich Hölderlin
in seinen Gedichten", "Die Weißen Blätter"
(Zürich), III. Jg. (1916), H. 6, S. 183-213. Ihre Übersetzung
dieses Vortrags erschien in der literarischen Wochenschrift "Kmen",
IV Jg., Nr. 23-25 (19. August-2. September 1920). Sie läßt erkennen,
dass Milena mit diesem Text, der selbst für deutsche Leser keine
leichte Lektüre ist, ihre Schwierigkeiten hatte. Vgl. Brief vom [4.
August 1920], Mittwoch, Anm. 3.
3] Briefmarkensammler: Der im weiteren noch mehrmals
erwähnte Briefmarkensammler ist ein Kollege Kafkas in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt.
Samstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at