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An Milena Jesenská
Zuhause fand ich diesen Brief. Ich kenne das Mädchen schon lange,
wir sind vielleicht ein wenig verwandt, zumindest haben wir einen gemeinsamen
Verwandten, eben jenen Cousin, den sie erwähnt und der sehr schwer
krank in Prag lag und von ihr und ihrer Schwester monatelang gepflegt worden
ist. Körperlich ist sie mir fast unangenehm, ein übergroßes
rotbackiges rundes Gesicht, ein kleiner runder Leib, eine ärgerlich
flüsternde Sprache. Sonst habe ich aber Gutes von ihr gehört
d. h. Verwandte haben sie hinter ihrem Rücken beschimpft.
Vor 2 Monaten wäre meine Antwort auf einen solchen Brief sehr einfach
gewesen: Nein, nein, nein. Jetzt glaube ich dazu kein Recht zu haben. Nicht
dass ich glaube, ihr irgendwie helfen zu können, natürlich,
auch hat schon Bismarck solche Briefe endgiltig mit dem Hinweis erledigt,
dass das Leben ein ungeschickt zusammengestelltes Festessen ist, bei
dem man ungeduldig auf die Vorspeise wartet, während im Stillen schon
der große Hauptbraten vorübergegangen ist, dementsprechend man
sich also einzurichten habe ach dumm ist diese Klugheit, schrecklich dumm!
- es ist mehr meinetwegen, als ihretwegen, dass ich ihr schreiben
werde, ich sei bereit mit ihr zusammenzukommen, irgendetwas ist durch Dich
Milena in meine Hand gegeben, ich glaube, ich darf sie nicht geschlossen
halten!
Morgen fährt der Onkel weg, ich werde wieder ein
wenig an die Luft, ins Wasser, außerhalb der Stadt kommen, das ist
mir sehr nötig.
Sie schreibt, dass nur ich den Brief lesen darf, diese Bitte erfülle
ich, wenn ich ihn Dir schicke. Zerreiße ihn. Eine hübsche Stelle
übrigens: ženy nepotřebuji mnoho.[ Frauen brauchen nicht
viel.]
1] der Onkel: Der bereits im Brief vom [6. Juli
1920] genannte Onkel Alfred [Löwy] aus Madrid, vgl. Anm. 1.
Freitag nachmittag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at