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An Milena Jesenská

[Prag, 23. Juli 1920]
Freitag nachmittag
 

Zuhause fand ich diesen Brief. Ich kenne das Mädchen schon lange, wir sind vielleicht ein wenig verwandt, zumindest haben wir einen gemeinsamen Verwandten, eben jenen Cousin, den sie erwähnt und der sehr schwer krank in Prag lag und von ihr und ihrer Schwester monatelang gepflegt worden ist. Körperlich ist sie mir fast unangenehm, ein übergroßes rotbackiges rundes Gesicht, ein kleiner runder Leib, eine ärgerlich flüsternde Sprache. Sonst habe ich aber Gutes von ihr gehört d. h. Verwandte haben sie hinter ihrem Rücken beschimpft.

Vor 2 Monaten wäre meine Antwort auf einen solchen Brief sehr einfach gewesen: Nein, nein, nein. Jetzt glaube ich dazu kein Recht zu haben. Nicht dass ich glaube, ihr irgendwie helfen zu können, natürlich, auch hat schon Bismarck solche Briefe endgiltig mit dem Hinweis erledigt, dass das Leben ein ungeschickt zusammengestelltes Festessen ist, bei dem man ungeduldig auf die Vorspeise wartet, während im Stillen schon der große Hauptbraten vorübergegangen ist, dementsprechend man sich also einzurichten habe ach dumm ist diese Klugheit, schrecklich dumm! - es ist mehr meinetwegen, als ihretwegen, dass ich ihr schreiben werde, ich sei bereit mit ihr zusammenzukommen, irgendetwas ist durch Dich Milena in meine Hand gegeben, ich glaube, ich darf sie nicht geschlossen halten!

Morgen fährt der Onkel weg, ich werde wieder ein wenig an die Luft, ins Wasser, außerhalb der Stadt kommen, das ist mir sehr nötig.

Sie schreibt, dass nur ich den Brief lesen darf, diese Bitte erfülle ich, wenn ich ihn Dir schicke. Zerreiße ihn. Eine hübsche Stelle übrigens: ženy nepotřebuji mnoho.[ Frauen brauchen nicht viel.]




1] der Onkel: Der bereits im Brief vom [6. Juli 1920] genannte Onkel Alfred [Löwy] aus Madrid, vgl. Anm. 1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at