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An Milena Jesenská

[Prag, 22. Juli 1920]
Donnerstag
 

Ja, dieser Brief. Es ist so wie wenn man in die Hölle hinunterschauen würde und der unten ruft zu einem herauf und erklärt einem sein Leben und wie er es sich dort eingerichtet hat. Zuerst bratet er in diesem Kessel und dann in jenem und dann setzt er sich in die Ecke um ein wenig auszudampfen. Aber ich kenne sie ja nicht von früher (nur den pitomec M kenne ich seit langem, auch Laurin nennt ihn so, ich habe es nicht bemerkt) vielleicht ist sie wirklich verwirrt oder irrsinnig. Wie sollte ein solches Schicksal sie nicht verwirrt haben da es ja auch uns verwirrt und ich glaube ich wäre sehr aufgeregt wenn ich ihr gegenüberstünde, denn sie ist ja nicht mehr nur ein Mensch sondern noch etwas anderes. Und ich kann mir nicht denken, dass sie das nicht auch merkt und Deinen Ekel vor ihrem Brief nicht auch selbst fühlt. Man spricht ja oft Dinge aus, die eines fremden Wesens Rede sind, aber nun immerfort so reden müssen wie vielleicht Jarmila!

Haas scheint sie übrigens, wenn ich es richtig verstehe - aber es ist ja gar kein Brief, es ist betrunkenes Leid und ich verstehe es gar nicht-nicht völlig verlassen zu haben.


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Milena, Fleißige, Dein Zimmer ändert sich mir in der Erinnerung, der Schreibtisch und das Ganze sah eigentlich nicht sehr nach Arbeit aus, aber jetzt so viel Arbeit und ich fühle sie, sie überzeugt mich, es muß großartig heiß und kühl und fröhlich in dem Zimmer sein. Nur der Schrank bleibt in seiner Schwerfälligkeit und manchmal ist das Schloß verdorben und er gibt nichts heraus, krampfhaft hält er sich zu und besonders das Kleid das Du am "Sonntag" hattest, verweigert er. Das ist ja kein Schrank; solltest Du Dich einmal neu einrichten, werfen wir ihn hinaus.


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Es tut mir einiges was ich in der letzten Zeit geschrieben habe, sehr leid, sei mir nicht böse. Und quäle Dich bitte nicht immerfort mit dem Gedanken, dass es nur Deine oder überhaupt Deine Schuld ist, dass Du nicht loskommst. Es ist vielmehr meine Schuld, ich schreibe einmal darüber.




1] pitomec M: Dummkopf Mareš. Kafka bezieht sich hier auf den schon früher genannten Michal Mareš, der ihm über die Umstände von Reiners Tod berichtet hatte. Milena hatte offenbar die Glaubwürdigkeit von Mareš' Darstellung in Frage gestellt. Vgl. Brief vom [13. Juli 1920] Dienstag, 2. Brief, Anm. 5.


2] Haas: Willy Haas lebte damals in Berlin; Ende März 1921 - nach Ablauf des Trauerjahres - heiratete er Jarmila.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at