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An Milena Jesenská

[Prag, 21. Juli 1920]
Mittwoch
 

Es hat doch gewisse Ergebnisse, wenn man den Mut hat:

Zunächst: Groß hat vielleicht doch nicht unrecht soweit ich ihn verstehe; es spricht für ihn zumindest dass ich noch lebe und sonst bei der Art meiner innern Kräfteverteilung eigentlich längst nicht mehr leben dürfte.

Dann: Wie es später werden mag, davon ist nicht die Rede, sicher ist nur dass ich fern von Dir nicht anders leben kann als dass ich der Angst vollständig recht gebe, mehr recht gebe als sie will und ich tue es ohne Zwang, mit Entzücken, ich gieße mich in sie aus.

Du hast recht im Namen der Angst mir Vorwürfe zu machen wegen meines Verhaltens in Wien, aber sie ist darin wirklich sonderbar, ihre innern Gesetze kenne ich nicht, nur ihre Hand an meiner Gurgel kenne ich und das ist wirklich das Schrecklichste was ich jemals erlebt habe oder erleben könnte.

Es ergibt sich dann vielleicht, dass wir jetzt beide verheiratet sind, Du in Wien, ich mit der Angst in Prag und dass nicht nur Du sondern auch ich vergeblich an unserer Ehe zerren. Denn sieh, Milena, (. . .)[ein Wort unleserlich gemacht] wärest Du von mir in Wien ganz überzeugt gewesen (übereinstimmend bis in den Schritt, von dem Du nicht überzeugt warst) Du wärest nicht mehr in Wien trotz allem, oder vielmehr es gäbe kein "trotz allem", Du wärest einfach in Prag und alles womit Du Dich in Deinem letzten Brief tröstest, ist eben nur Trost. Glaubst Du nicht?

Wärest Du gleich nach Prag gekommen oder hättest Dich wenigstens gleich dafür entschieden, so wäre das ja mir kein Beweis für Dich gewesen, ich brauche keine Beweise für Dich, Du bist mir über alles klar und sicher, aber es wäre ein großer Beweis für mich gewesen und der fehlt mir jetzt. Auch davon nährt sich bei Gelegenheit die Angst.

Ja es ist vielleicht noch ärger und gerade ich, der "Retter" halte Dich in Wien fest, wie niemand bisher.


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So das war das Gewitter, das im Wald immerfort drohte, aber es gierig uns doch gut. Leben wir weiter unter seinen Drohungen, da es nicht anders geht.

dass in der Tribuna eine Übersetzung erschienen ist, telephonierte Laurin, da Du es aber nicht erwähnt hattest wußte ich nicht ob Du es gelesen haben wolltest und ich habe es also noch nicht gelesen. Jetzt werde ich es mir zu verschaffen suchen.

Was Du gegen den Brief des Fräuleins hast, verstehe ich nicht. Seinen Zweck Dich ein wenig eifersüchtig zu machen hat er doch erfüllt, nun also? Nächstens werde ich von Zeit zu Zeit solche Briefe erfinden und selbst schreiben, noch besser als jenen und ohne schließliche Abweisung.

Bitte, paar Worte über Deine Arbeiten! Cesta? Lipa? Kmen? Politika?


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Noch irgendetwas wollte ich sagen, aber wieder war ein junger Dichter hier - ich weiß nicht, sofort wenn jemand kommt, erinnere ich mich an meine Akten und kann während des ganzen Besuches an nichts anderes denken - ich bin müde, weiß nichts, und wollte nichts als mein Gesicht in Deinen Schooß legen, Deine Hand auf meinem Kopf fühlen und so bleiben durch alle Ewigkeiten

Dein          


Da, das wollte ich noch sagen: es steht eine große Wahrheit (unter andern Wahrheiten) in Deinem Brief: že vlastně ty jsi člověk který nemá tušení o tom. . .[dass eigentlich Du der Mensch bist, der keine Ahnung davon hat...]. Das ist Wort für Wort wahr. Alles war nur Schmutz, kläglichste Abscheulichkeit, höllenmäßiges Versinken und darin stehe ich wirklich vor Dir wie ein Kind, das etwas sehr Böses getan hat und nun steht es vor der Mutter und weint und weint und tut ein Gelübde: ich werde es nie mehr tun. Aber aus alledem nimmt ja die Angst ihre Kraft: "Eben, eben!" sagt sie "nemá tušení! [hat keine Ahnung!] - Es ist noch nichts geschehn! Also-kann-er-noch-gerettet-werden! "


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Ich fahre auf. Das Telephon! Zum Direktor! Das erstemal seitdem ich in Prag bin, in Dienstsachen hinuntergerufen! Jetzt kommt endlich der ganze Schwindel heraus. Seit 18 Tagen nichts gemacht, als Briefe geschrieben, Briefe gelesen, vor allem aus dem Fenster geschaut, Briefe in der Hand gehalten, hingelegt, wieder aufgenommen, dann auch Besuche gehabt und sonst nichts. Aber als ich hinunterkomme, ist er freundlich, lächelt, erzählt etwas Amtliches das ich nicht verstehe, nimmt Abschied, weil er auf Urlaub geht, ein unbegreiflich guter Mensch (Allerdings habe ich undeutlich gemurmelt, dass ich fast alles schon fertig habe und morgen zu diktieren anfange). Und nun berichte ich das noch schnell meinem guten Geist. Merkwürdigerweise liegt auf seinem Tisch noch immer mein Wiener Brief, darauf noch ein Wiener Brief, undeutlich glaubte ich zuerst fast, es gehe um Dich.




1] eine Übersetzung: Wahrscheinlich Milenas Übersetzung von Kafkas "Unglücklichsein" ["Nešt'astný"] in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 166 (16.7. 1920), S. 1 f. Kafkas Bemerkung, er habe nicht gewußt, ob sie es "gelesen haben" wollte, deutet darauf hin, dass es sich um eine Übersetzung seines Textes handelt.


2] Brief des Fräuleins: Wahrscheinlich das im Brief vom [23. Juli 1920], S. 141, nochmals erwähnte "Mädchen" , eine entfernte Verwandte Kafkas.


3] Cesta? Lípa? Kmen? Politika?: Titel tschechischer Zeitschriften, für die Milena gelegentlich Artikel schrieb oder übersetzte.


4] ein junger Dichter: Vermutlich der damals siebzehnjährige Gustav Janouch, der ihn des öfteren in seinem Büro in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt aufsuchte; Janouchs Vater war ein Kollege Kafkas in der Anstalt. Vgl. G. Janouch, "Gespräche mit Kafka", (Frankfurt am Main: S. Fischer, 1951).


5] ein unbegreiflich guter Mensch: Kafkas Direktor seit 1919, Dr. Bedřich Odstčil, der ihn sehr schätzte und zu dem er, wie schon zu seinem früheren Direktor, Dr. Robert Marschner, in einem besonders guten Verhältnis stand. Vgl. "Briefe", S. 308.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at