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An Milena Jesenská

[Prag, 20. Juli 1920]
Dienstag
 

Zwischen dem Diktieren, zu dem ich mich heute aufgerafft habe:

Solche kleine fröhliche oder zumindest selbstverständlichen Briefe, wie die beiden heutigen, das ist schon fast (fast fast fast fast) Wald, und Wind in Deinen Ärmeln und Blick auf Wien. Milena, wie gut ist es bei Dir!

Heute schickt mir das Mädchen ohne ein weiteres Wort nur mit paar Bleistiftanstreichungen Deinen Brief. Offenbar ist sie mit ihm nicht zufrieden, nun ja er hat wie jeder mit Strichen versehene Brief seine Mängel und es kommt mir angesichts seifner zu Bewußtsein was für eine unsinnige Unmöglichkeit ich Dir mit jenem Brief abverlangt habe und ich bitte Dich vielmals um Verzeihung. Ich müßte allerdings auch sie um Verzeihung bitten, denn wie es auch geschrieben war, es mußte sie kränken. Wenn Du z. B. schreibst, voll Rücksicht schreibst "poněvadž o Vás nikdy am nepsal ani nehovořil"["weil er von Ihnen weder geschrieben noch gesprochen hat"

] so muß es sie kränken, genau so wie sie das Gegenteil gekränkt hätte. Nochmals verzeih mir.

Mit einem andern Brief, dem an Staša, hast Du mir übrigens sehr geholfen.


Nachmittag

Es ist mir gelungen mich im Bureau von diesem Brief wegzuhalten, aber es hat keine kleine Arbeit gekostet, fast habe ich alle Kraft damit verbraucht und nichts mehr für Bureauarbeit behalten.

Der Brief an Staša: Jílovský war ja gestern vormittag bei mir und erwähnte, es sei ein Brief von Dir gekommen, er habe ihn auf dem Tisch gesehn, als er früh von zuhause fortgegangen war, wisse aber noch nicht, was darin stand, abend werde es mir Staša sagen. Da war mir nun gegenüber seiner Freundlichkeit genug unbehaglich, denn was konnte nicht alles, von mir mitverursacht, in Deinem Briefe stehn. Aber Abend zeigte sich, dass er doch sehr gut war und beide wenigstens was seine freundschaftliche Stimmung anlangte (ich habe ihn nicht gelesen) befriedigte, vor allem war da ein kleiner Dankessatz für den Mann, der nur auf meine Mitteilungen zurückgehn konnte und der Staša wirklich glücklich machte und seine Augen noch ein wenig mehr als sonst leuchten ließ. Sie sind doch, wenn man einiges zu vergessen sich anstrengt und es sich bequem macht und der Magen, der nervöse Magen, das aushält, gute Menschen, besonders wenn sie zusammen sind oder er allein (Staša allein ist fragwürdiger) und Staša hatte eine wunderbar schöne Minute als sie Deine Photographie eigentlich unverständlich lange und angestrengt und schweigend und ernst ansah. Vielleicht erzähle ich noch einiges über den Abend, ich war müde, leer, langweilig, prügelnswert, gleichgültig und wollte von Anfang an nichts anderes als das Bett. (Den beiliegenden Zettel, eine Zeichnung Stašas wir sprachen von der Lage Deiner Zimmer mit Erklärungen Jílovskýs, soll ich Dir schicken.) Sie leben übrigens sehr reich, brauchen jährlich über 60.000 Kč und sagen, dass man mit weniger unmöglich auskommen könne.

Mit Deiner Übersetzung bin ich natürlich ganz einverstanden. Nur verhält sie sich eben zum Text wie Frank zu Franz, wie Dein Bergsteigen zu meinem u.s.w. Und wenn der Mann die Kraft für nutno und abych[(es ist) notwendig und damit ich] aufbringt, hätte es doch überhaupt nicht so weit kommen müssen und er hätte doch eigentlich auch heiraten können, der dumme, dumme Junggeselle. Aber laß es bitte auf jeden Fall so wie Du wolltest und verschaff mir einmal das Glück von mir aufatmen zu dürfen.

Gestern riet ich Dir mir nicht täglich zu schreiben, das ist noch heute meine Meinung und es wäre sehr gut für uns beide und ich rate es Dir heute noch einmal und noch nachdrücklicher - nur bitte Milena folge mir nicht und schreibe mir doch täglich, es kann ja ganz kurz sein, kürzer als die heutigen Briefe, nur 2 Zeilen, nur eine, nur ein Wort, aber dieses Wort würde ich nur unter schrecklichen Leiden entbehren können.

F          




1] Deinen Brief: Den Brief, den Milena - mit Kafkas Wissen - an Julie Wohryzek gerichtet hatte.


1] Übersetzung: Milenas Übersetzung von Kafkas )Das Unglück des Junggesellen" ["Neštěstí mládence"] erschien zusammen mit fünf weiteren Prosastücken aus dem Band )Betrachtung( in der literarischen Wochenschrift "Kmen", IV. Jg., Nr. 26 (9. 9. 1920), S. 308-310.


2] Dein Bergsteigen: Bezieht sich auf die gemeinsame Wanderung in den Vorhöhen des Wiener Waldes. Vgl. Milenas Beschreibung dieser Wanderung im 5. Brief an Max Brod [Januar/Februar 1921] im Anhang zu diesem Band, S. 370: "... ich habe ihn über die Hügel hinter Wien geschleppt . . . ". Vgl. auch Brief vom [4. Juli 1920] Sonntag, Anm. 1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at