Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, 16. Juli 1920]
Freitag
 

Ich wollte mich vor Dir auszeichnen, Willenskraft zeigen, mit dem Brief an Dich warten, zuerst einen Akt erledigen, aber das Zimmer ist leer, niemand kümmert sich um mich, es ist als sagte man: laßt ihn, seht ihr nicht wie ihn seine Sache erfüllt, es ist als hätte er eine Faust im Mund. So habe ich nur eine halbe Seite geschrieben und bin wieder bei Dir, liege über dem Brief, wie ich neben Dir lag damals im Walde.

Heute kam kein Brief, aber ich habe keine Angst, bitte Milena mißverstehe mich nicht, ich habe niemals Angst um Dich, sieht es einmal so aus und es sieht ja oft so aus, so ist es nur eine Schwäche, eine Laune des Herzens, das trotzdem genau weiß wofür es schlägt, auch Riesen haben Schwächen, selbst Herakles hatte, glaube ich, einmal eine Ohnmacht. Aber ich kann mit zusammengebissenen Zähnen und gegenüber Deinen Augen die ich selbst am hellen Tage sehe, alles ertragen: Ferne, Bangigkeit, Sorge, Brieflosigkeit.


----------


Wie glücklich bin ich, wie glücklich machst Du mich! Eine Partei kam, denke, ich habe auch Parteien, der Mann unterbrach mich im Schreiben, ich ärgerte mich, aber er hatte ein gutes, freundliches, dickes, dabei reichsdeutsch korrektes Gesicht, war so lieb, Späße als amtliche Erledigungen hinzunehmen, immerhin er hatte mich gestört, ich konnte es ihm nicht verzeihn, dann mußte ich gar noch aufstehn, um mit ihm in andere Abteilungen zu gehn, aber das war Dir Gute doch schon zu viel und gerade als ich aufstand, kommt der Diener und bringt Deinen Brief und auf der Treppe mache ich ihn auf, lieber Himmel, ein Bild ist drin, also etwas ganz und gar Unerschöpfliches, ein Jahres-Brief, ein Ewigkeits-Brief und so gut ist es, es kann ja gar nicht besser sein, ein armes Bild, und nur durch Tränen und mit Herzklopfen dürfte man es ansehn, nicht anders.


---------


Und wieder sitzt ein Fremder an meinem Tisch.


----------


Um das Obige fortzusetzen: Alles kann ich ertragen, Dich im Herzen, und wenn ich einmal geschrieben habe, dass die Tage ohne Deine Briefe entsetzlich waren, so ist das nicht richtig, sie waren nur entsetzlich schwer, das Boot war schwer, es hatte entsetzlichen Tiefgang, aber es schwamm doch auf Deiner Flut. Nur eines Milena kann ich ohne Deine ausdrückliche Hilfe nicht ertragen: die "Angst", dafür bin ich viel zu schwach, ich kann ja dieses Ungeheuere nicht einmal überblicken, es schwemmt mich fort.

Was Du über Jarmila sagst, ist eben eine jener Schwächen des Herzens, einen Augenblick lang hört Dein Herz auf, mir treu zu sein und dann kommt Dir ein solcher Gedanke. Sind wir denn noch zwei Menschen in diesem Sinn? Und ist denn meine "Angst" viel anderes als Angst vor Selbstbefleckung?


----------


Wieder eine Unterbrechung, ich werde im Bureau nicht mehr schreiben können.


---------


Der angekündigte große Brief könnte fast Furcht machen, wäre nicht dieser Brief so beruhigend. Was wird darin stehn?

Schreib mir gleich ob das Geld angekommen ist. Sollte es verloren gegangen sein, schicke ich anderes, und wenn das verloren gehn sollte, wieder anderes und so weiter bis wir gar nichts mehr haben und dann erst recht alles in Ordnung ist.

F          


Die Blume habe ich nicht bekommen, die schien Dir im letzten Augenblick doch zu schade für mich.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at